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Das Ausland. 1,2.1828

Das Ausland.
Ein Tagblatt
für Kunde des geistigen und sittlichen Lebens der Völker,
mit besonderer Rücksicht auf verwandte Erscheinungen in Deutschland.

Num. 115. 24 April 1828.

General Pelets Urtheil über die Angelegenheiten des Orients.[1]


Der Kriegsruf erschallt; er ertönt von den Ufern des Pruth bis zu den Gestaden des Bosporos, und schallt wieder in den Echos des Peloponneses. Das Geschütz der drei Mächte, donnernd an den Küsten Messenien’s, verkündigte die Befreiung Griechenlands. Die Erinnerungen so großen Ruhms und so großen Unglücks heiligen diesen Krieg. Aber ein Franzose darf sich fragen, welche Folgen daraus für sein Vaterland hervorgehen werden.

Seit vierzig Jahren bietet Europa den Anblick eines weiten Schlachtfeldes dar. Lange Zeit erhob das republicanische und das kaiserliche Frankreich seine Adler über alle Standarten des Continents. Nachdem es die Coalition der Souveräne besiegt hatte, trug es seine Fahnen gegen Rußland, dessen Fortschritte seit einem Jahrhundert Europa bedrohten. Frankreich unterlag. Die Coalition warf die Maske ab. Ungeheure Armeen erstanden. Der Czar bemächtigte sich des militärischen Zepters; er ordnete die Theilung der Beute. Oestreich und Preußen erhielten in Italien und Frankreich Entschädigung für die Länderstriche, die ihnen Rußland in Polen entzog.

Der allgemeine Friede ward geschloßen, Europa aber blieb unter den Waffen. So lange ein Mann lebte, hielten die Souveräne den Blick auf seinen einsamen Felsen gerichtet. Welchen Vorwand zu solchen Bewaffnungen aber hat man noch, seit jener Mann todt ist? Soll man es gerade heraus sagen? Die Mächte waren bewaffnet gegen die Rechte und Gefühle, die sie einst angerufen hatten, um die Völker gegen Frankreich aufzuregen. Die Furcht, die sie einflößten, verlängerte die Kriege der Diplomatie, verschob die Vergrößerungs-Entwürfe. Wir sahen, wie vor einigen Jahren Congreß auf Congreß folgte. … Die Heere erklärten den Constitutionen den Krieg, und überzogen den ganzen Süden Europas.

Griechenland, das Vaterland so vieler großen Männer, der Gegenstand der Bildung unsrer Jugend, das von den Russen so oft aufgeregte Griechenland, kämpfte indessen gegen seine Unterdrücker. Mehr als die Hälfte seiner Bevölkerung erlag; den Ueberlebenden blieb nur zwischen Sieg oder Tod die Wahl. Der ottomanische Fanatismus wollte alle Rebellen vernichten. Jahre lang blickten die Cabinete gleichgültig auf den Martyrtod der Mitchristen. Endlich fürchten sie, eine der Mächte möchte diese heilige Sache zu der ihrigen machen, und in dem blutgetränkten Lande alte Entwürfe zur Ausführung bringen. Drei Cabinete treten als Vermittler auf, aber mit so entgegengesetztem Interesse, daß ihre Vereinigung als eine politische Verirrung bezeichnet wurde. Zwei andere Mächte, nicht weniger interessirt, wollen dem Bunde nicht beitreten, und bleiben Zuschauer der bewaffneten Unterhandlung.

Welches sind nun die Beziehungen und die wirklichen Absichten der europäischen Mächte? Welches wird ihre Haltung in einem Monate seyn? Nicht in leeren Demonstrationen, in Verträgen, in denen jeder seine geheimen Gedanken zurückhält, darf man eine Aufklärung über ihr künftiges Betragen suchen, sondern in den wirklichen Interessen der Cabinete.... Jeder Staat hat eine sich gleichbleibende Politik; er kann für Augenblicke sich davon entfernen, aber er muß beständig darauf zurückkommen. Auch kennt jeder das Geheimniß seiner innern Lage, welches er mehr oder weniger ängstlich zu verbergen sucht, und welches oft alle diplomatischen Berechnungen beherrscht. Endlich müssen auch die Privatinteressen der Minister, der Höfe, der Oligarchie in Berathung gezogen werden, welche in unsern Tagen einen so großen Einfluß in den Angelegenheiten Europas üben. Mitten in einer solchen Vermischung von fundamentalen und augenblicklichen Interessen, von innern Schwierigkeiten und persönlichen Rücksichten, kann man da wohl sich schmeicheln, die Zukunft vollständig voraus zu sagen? Wir sehen blos, daß die diplomatischen Kriege sich erneuern, und daß alle Mächte unter den Waffen stehen. Ein einfaches statistisches Gemälde wird hinreichen, uns ihre Mittel kennen zu lehren.

Versuchen wir, die sinnreiche diplomatische Lection, die einst Segur von Aranda erhielt, zu wiederholen, und stellen wir uns vor eine Karte. Wir sehen, daß gegenwärtig der Mittelpunkt Europa’s sich gerade an dem westlichen Vorsprunge der russischen Grenzen befindet, an der Oder, zu Wiernszow, zwischen Warschau und Breslau, weniger entfernt von Saint-Vincent als von dem Ural. Untersuchen wir die Fortschritte, welche das Reich der Czaren gemacht hat; betrachten wir seine Stellung im Jahre 1696, 1808 und 1828. Seine westlichen Gränzen sind um 250 Stunden uns näher gerückt. Wiernszow liegt im Mittelpunkt eines Zirkels, der durch Moskau, Constantinopel, Reggio in Calabrien, Limoges, Oxford und Wasa in Finland läuft. Es ist 80 Stunden von Wien, Chemnitz, Berlin, 160 vom Rhein. Die Soldaten des Czars


  1. Le spectateur militaire. Man vergl. Serons-nous Russes out serons-nous Anglais? Discussion sur les affaires d’Orient dans leur rapports avec les intérêts de la France. Paris 1828.
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: Das Ausland. 1,2.1828. Cotta, München 1828, Seite 457. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_Ausland_(1828)_475.jpg&oldid=- (Version vom 28.4.2023)