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Das Ausland. 1,2.1828

Das Ausland.
Ein Tagblatt
für Kunde des geistigen und sittlichen Lebens der Völker,
mit besonderer Rücksicht auf verwandte Erscheinungen in Deutschland.

Num. 116. 25 April 1828.

Pulcinell in England.




Eines der unterhaltendsten Werke, das kürzlich in England erschienen ist: Punch and Judy, with Illustrations drawn and engraved by G. Cruikshank London 1828 hat einen in neuerer Zeit, leider! allzusehr vernachläßigten Helden zum Gegenstande, der indessen – ungeachtet des Schulmeisterdünkels, der ihn in der Mitte des vorigen Jahrhunderts von unserer Bühne verbannte – wenigen unserer Leser so unbekannt seyn wird, daß die Erinnerung an denselben nicht ihre Gesichtszüge zum Lachen oder Lächeln verziehen sollte. Wen anders könnten wir meinen, als unsern alten Freund und lustigen Rath, Hans Wurst, in Holland pedantisch de Toneelgek, in England Jack Pudding oder Punch und in Italien Pulcinello genannt? Wahrscheinlich ist das letztere sein ursprünglicher Familienname; wenn wir auch nicht gerade darauf schwören wollen, daß er – wie gewöhnlich angenommen wird – das Licht der Welt zuerst im 15ten Jahrhunderte zu Acerra, einer alten Stadt bei Neapel, erblickt habe. Seine frühere Geschichte unterliegt – gleich der des ewigen Juden, mit der sie sich in mehreren Beziehungen vergleichen läßt – manchen Zweifeln; und Männer von ausgezeichnetem Scharfsinn haben die Frage aufgeworfen, ob Pulcinello nicht ein Zweig von einer viel älteren Familie sey, als die Italiener behaupten. Die Entdeckung der Broncestatue eines Mimen, von den Römern Maccus genannt, im Jahre 1723, brachte einige Antiquare auf die Vermuthung, daß dieser Maccus in der That unser Pulcinell sey, unter einem andern Namen, aber mit denselben Attributen und namentlich der großen Nase und dem Buckel. Aber ob die erwähnte Figur auch wirklich jenen Maccus vorstellt, scheint noch sehr zweifelhaft; und dieß vorausgesetzt, so ist die Frage, ob Pulcinell und Maccus außer der großen Nase und dem Buckel das geringste gemein hatten. Dagegen finden wir in den ältesten theatralischen Versuchen des Mittelalters, den Moralitäten, in allen Ländern Europas eine allegorische Person – das Laster – mit der Rolle beauftragt, den ernsthafteren Theil der Darstellung durch lächerliche Geberden, Scherze und Thorheiten zu erheitern. Dieß war ohne Zweifel das Original des Clown oder Narren im alten englischen Drama und wir halten es wenigstens für keine unwahrscheinliche Conjectur, daß es auch das Original von Harlequin und seinem nahen Verwandten, Pulcinello, war. Das Hauptzubehör des Lasters war ein vergoldetes hölzernes Schwert, und dieß war auch das Attribut des alten Clown, so wie seiner ganzen Sippschaft in und außer England. – Als einen zweiten Beleg für unsere Annahme können wir einen stehenden Witz des Pulcinell anführen – wenn er seinen Kopf aus dem Vorhang hervorsteckt und den Patriarchen in der Arche anredet, während die Fluthen niederströmen: „Abscheuliches Wetter, Meister Noah!“ Dieser gegenwärtig ganz sinnlose, obgleich beständig wiederholte Einfall beweist, daß zu einer frühern Periode die Abentheuer unseres Helden mit Geschichten aus der Bibel in Verbindung gestanden haben müssen; und dieß führt uns gleichfalls auf die Moralitäten zurück.

Die Abenteuer Pulcinells sind überall zu verschiedenen Zeiten verschieden dargestellt und durch Neuerungen und Einschiebsel aller Art dem Geschmack und den Ereignissen des Tages angepaßt worden. So sah man auf einem der Marionettentheater in London, die dort, wie in Italien, auf den Straßen aufgerichtet werden, nach der Schlacht bei Abukir, Nelson, wie er Pulcinell zu überreden suchte, als braver Bursch, an Bord seines Schiffes zu kommen und ihm gegen die Franzosen fechten zu helfen: „Komm, Pulcinell, mein Bursch,“ sagte der Seeheld, „ich will dich zu einem Capitän oder Commodore machen, wenn es dir gefällt.“ Aber es gefällt mir nicht, antwortete der Held des Puppenspiels, ich werde ersaufen. „Fürchte das nicht,“ entgegnete Nelson, „du weißt wohl, wer dazu geboren ist zu hängen, der ersäuft nicht.“ – Während einer der Parlamentswahlen für Westminster empfing Sir Francis Burdett gleiche Ehre; er wurde dargestellt, wie er Judy [1] und ihr Kind küßte und Mr. Pulcinell um seine Stimme bat.

Die beste Darstellung der tragischen Komödie oder der komischen Tragödie von „Pulcinell’s Leben, Meinungen und Thaten,“ die wir je gesehen oder gelesen haben, ist indessen die, von der wir hier aus dem Munde eines alten Italieners, Piccini, der Großbritannien ein halbes Jahrhundert lang mit seinem Puppenspiel durchwandert hat, Bericht erhalten.

Nachdem Pulcinell’s Auftreten, Gequäck und Bücklinge sein Auditorium wie gewöhnlich in guten Humor gesetzt haben, spricht er seinen Prolog:


  1. Judith. So heißt das Weib des Pulcinell im Puppenspiel; nicht Joan, wie Fielding im Tom Jones (XII. C. 5) und nach ihm Walter Scott in irgend einem seiner Romane meint.
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: Das Ausland. 1,2.1828. Cotta, München 1828, Seite 461. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_Ausland_(1828)_479.jpg&oldid=- (Version vom 27.4.2023)