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Das Ausland. 1,2.1828

Indessen werden die politischen Schwierigkeiten sich nach dem Maße der russischen Siege, selbst vermehren. „Was machen wir aus Constantinopel?“ fragte Katharina den Kaiser Joseph. Seitdem hat das Cabinet von St. Petersburg unaufhörlich die Frage gegen die benachbarten Mächte wiederholt; keine der letzteren aber hat zu antworten gewagt, weil der ganze Streit über die europäische Türkei sich in der That auf die Hauptstadt beschränkt. Der Czar würde gern die Hälfte des türkischen Gebiets jedem Anderen überlassen, wenn er sich nur desjenigen Theils versicherte, der zwischen der Donau, dem ägeischen Meere, dem Vardar, der obern Morawa und dem Timok liegt. Welche Wichtigkeit aber hätten die Inseln des Archipels für England, das schon die jonischen und Malta besitzt? Welche Bedeutung hätten Croatien, Bosnien, Albanien, selbst Servien für Oesterreich, dem die Küsten des Adriatischen Meeres ohnedieß gehören, wenn Rußland die Mündungen der Donau verschließen kann? Was sollte Frankreich erhalten, das seinen alten levantischen Handel, seine Vorrechte in Constantinopel, und die ihm gebührende Herrschaft auf dem mittelländischen Meere aufwiegen könnte? Was wird das russische Cabinet den Schweden und Preussen anbieten, um ihnen bei einer solchen Vergrößerung seiner Macht für die nothwendig damit verbundene Schmälerung der ihrigen Ersatz zu geben? Wird es ihnen vielleicht Erwerbungen im Westen zusichern?

Die Diplomatie kann für den Augenblick die Frage über die türkischen Angelegenheiten aufschieben; so wie Rußland aber mit seinen Heeren die Donau überschreitet, wird die Lösung nicht länger von der Hand zu weisen seyn. Man kann heute die Fürstenthümer für Rußland, Croatien und Klein-Servien für Oesterreich, Morea und die Abdachung des agraphischen Gebirges für England, die große Schutzmacht der Hellenen, von den Besitzungen des Sultans losreissen; dann wäre England zu Wasser Constantinopel so nahe benachbart, als Rußland zu Lande, und könnte dem übrigen Europa für einen temporären Waffenstillstand Bürge seyn. Worin würde aber, bei dem einen oder bei dem andern System, der Antheil Frankreichs bestehen, für welches es wichtiger ist, ein Dorf im Norden, als ganze Distrikte im Süden zu erhalten?

Bei diesem großen Kampfe muß ein einziger Gedanke alle französischen Herzen beherrschen. Was ist das Interesse, welches ist die Stellung des Vaterlandes? Wir haben bisher nicht von Frankreich gesprochen. Es ziemt uns nicht, die Geheimnisse seiner Stärke und seiner Politik offenbar zu machen; was aber alle Welt sieht, dürfen auch wir in Erwägung ziehen. Die Charte zeigt uns Frankreich in derselben Lage, wie vor mehr als hundert Jahren unter Ludwig XIV; denn was es anderwärts verloren hat, beträgt wohl so viel als die Erwerbung von Lothringen. (?) Man betrachte dagegen Rußland unter Peter dem Großen, [1] Oesterreich unter Ferdinand III, England unter Jacob II, welches letztere seitdem 115 Millionen Unterthanen in Indien erworben hat; man betrachte die Staaten des Churfürsten Friedrich Wilhelm von Brandenburg, dessen berühmter Nachfolger sagte: „Ludwig XIV hat einen Feind mehr als er bemerkte.“ Sehen wir auch, was aus unsern alten Alliirten, der Türkei, Schweden und Spanien, geworden ist!! Suchen wir die Stellen, welche das unglückliche Polen, die Republiken Venedig und Genua einnehmen... Wir befinden uns heutigen Tages außerhalb jenes europäischen Gleichgewichtes, wie es durch den Frieden von Achen, Hubertsburg und Teschen bestimmt wurde.

An dem westlichen Ende des europäischen Festlandes gelegen, zwischen Meeren, an denen es zahlreiche Häfen und alle Elemente einer guten Marine besitzt, hat Frankreich zugleich einen so mannigfaltig wechselnden Boden, daß es alle Früchte des Ackerbaues, der Industrie und des Handels im Ueberfluß hervorzubringen vermag. Es ist so reich, daß es alle Anstrengungen, alle Unglücksfälle der letzten vierzig Jahre zu ertragen im Stande war. Das französische Volk ist kriegerisch, geistreich, lebhaft, gewerbfleißig; seit mehr als zwei Jahrhunderten sind durch eine Reihe von Revolutionen seine moralischen Eigenschaften und die Kräfte seines Willens entwickelt worden. Auch kann man sagen, daß in diesem weiten Reiche jeder einzelne Mensch für etwas zählt. In eine Masse vereint, haben die Franzosen sich seit langer Zeit als unüberwindlich gezeigt. Die Grenzen Frankreichs sind wenigstens auf der einen Hälfte ihrer Ausdehnung hinlänglich gegen fremde Angriffe geschützt; gegen Norden aber ist der reichste, der Hauptstadt zunächst liegende Theil des Landes seiner Schutzwehren beraubt. Unser schönes, von allen Nachbaren beneidetes Vaterland behielt seine Integrität nur, weil seine kriegerischen Bürger Furcht einflößen, weil es untheilbar und zu einem gewissen Gleichgewicht in Europa nothwendig ist. Seine, seit Jahrhunderten vereinten Provinzen zeigen ein organisches Ganzes, wie es kein anderer Staat aufzuweisen hat. Seine Macht kann bedeutend durch die Macht der benachbarten Repräsentativ-Staaten vermehrt werden.

Frankreich hat, nach der Sorge für seine Erhaltung, nur ein großes Interesse, und dieses besteht darin, daß es sich wieder zu dem Range erhebe, den es in der Mitte der Regierung Ludwigs XV behauptete. Alle Entschädigungen, die man ihm bei einer Theilung der Türkei anbieten möchte, würden seine Stellung nur bedenklicher machen. Als Continental-Macht muß Frankreich, obgleich entfernt von Rußland, dessen Vergrößerung fürchten, und kann nicht zulassen, daß Rußland andere Staaten erdrücke; denn der Krieg mit diesem würde am Ende auf Frankreich allein zurückfallen. In den Angelegenheiten des Orients scheinen Frankreichs Interessen in letzter Reihe zu stehen; doch wird, durch die Sorge für seinen Handel, für seine Marine, und selbst für seinen Ackerbau, ihm

  1. Im Jahre 1722 hatte Rußland 14 Millionen Einwohner; i. J. 1742 nur erst 16 Mill.; i. J. 1762 bereits 20 Mill. Jetzt berechnen die Denkwürdigkeiten der Petersburger Akademie die jährliche Vermehrung der Bevölkerung auf 550,000 Seelen. Die Bevölkerung des ganzen russischen Reichs wird auf 59,544,000 Seelen geschätzt, nämlich 44,118,000 für das europäische Rußland; 3,702,300 für Polen und 11,713,100 für Asien und Amerika.
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: Das Ausland. 1,2.1828. Cotta, München 1828, Seite 491. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_Ausland_(1828)_511.jpg&oldid=- (Version vom 10.7.2023)