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Das Ausland. 1,2.1828

Die Mutter scheidet sich vom Sohn, der Sohn von seiner Mutter,
Und von einander Mann und Weib, die inniglich geliebten.
Dort drüben jenseits dem Gebirg, der steilen Höh’, der großen,
Die Nebel auf dem Haupte trägt, und Reif an ihrem Fuße,
Da liegen in getrennter Gruft zwei Brüder eingegraben,
Und zwischen ihren Gräbern ist ein Weinstock aufgeschossen.
Der trägt der rothen Trauben viel und Gift in ihrem Weine,
Und keine Mutter, die ihn trinkt, wird einen Sohn gebären:
O hätte meine Mutter auch von diesem Saft getrunken!“

Neben jener Innigkeit und Lauterkeit der Gefühle geht die Raschheit, und mit ihr die Beweglichkeit der Darstellungen. Die Bilder, die Gedanken treten so unmittelbar nach einander ein, daß nicht selten die Verbindungen fehlen, und, was man als ergänzend, bedingend, vorbereitend, erläuternd begehren könnte, meist als untergeordnet niedergeschlagen wird. So wechseln auch mit gleicher Raschheit die verschiedensten Formen der Darstellung; die Schilderung eines Gefühls, einer Lage verschlingt sich bald mit einer Erzählung, bald mit Gesprächen, so daß das Lyrische, Epische und Dramatische auf das Leichteste und Anmuthigste gemischt sind, und dem Hörer wird überlassen, wahrzunehmen, wo die Personen eingeführt, wie die bunten Stoffe verbunden, wo die Scenen gewechselt werden.

Was aber den Werth dieser Lieder noch erhöht, ist ihre große Verschiedenheit; denn obwohl in allen dasselbe nationale Gepräge leicht erkennbar ist, so spiegelt sich doch im Einzelnen der Charakter der Stämme wie der Landschaften ab, in denen sie entsprungen sind.

Wild und stürmisch, wie die Sitten und Scenen des Lebens, welche sie schildern, sind die Lieder der Armatolen aus den Gebirgen von Epirus, Akarnanien und Thessalien. Die kühnen Streifzüge, welche jene nie bezwungenen Horden aus ihren Klüften und Wäldern unternahmen, um als Feinde die Türken zu bekriegen, oder sie als Räuber zu plündern, die Kämpfe, welche sie gegen Ali Pascha zu bestehen hatten, ihr Heldenmuth, ihr Trotz, ihr Haß gegen den grausamen Feind sind ihr rauher Stoff, und bilden die eine Seite des Gemäldes, dessen Düsterheit durch die Züge von Großmuth, Aufopferung und patriarchalischer Schlichtheit des Lebens und der Sitten wunderbar gemildert wird.

Wildheit und heroische Kraft athmet in folgender Stelle des oben erwähnten Liedes, in welcher der Olympus sich seiner kühnen Bewohner rühmt:[1]

Auf meinem höchsten Gipfel hat ein Adler sich gesetzt,
In seinen Krallen hält er fest das Haupt von einem Helden,
„Was hast du wohl, o Haupt, gethan, daß du gerichtet wurdest?“
Friß, Vogel, meine Jugend auf, friß, Vogel, meine Stärke,
Dann wächst dein Flügel ellenlang, und spannenlang die Kralle.
In Luxos und Xeromeros war ich ein Armatole,
In Chasia und auf dem Olymp zwölf Jahre lang ein Räuber;
Und sechzig Aga’s schlug ich todt, brannt’ ihre Dörfer nieder.
Doch traf mich selber nun die Reih’ im Kampfe zu erliegen.

Nach harten Kämpfen hatte Ali Pascha zwar die Sulioten bezwungen, auch die Pässe der thessalischen Gebirge, doch nicht die Standhaftigkeit ihrer Bewohner, noch ihren Haß: [2]

Obwohl die Pässe türkisch sind, sie nahm der Albanite,
Stergios ist am Leben noch, nicht kümmern ihn die Pascha’s:
So lange Schnee auf Berge fällt, bekämpfen wir die Türken,
Wir gehn und suchen uns Gehöf, da wo die Wölfe lagern.
In Städten wohnt der Knechte Schaar, in Ebnen bei den Türken,
Zu Städten wählen Berges Oed’ und Schlucht wir Pallikaren,
Statt mit den Türken leben wir lieber mit wilden Thieren.

Wendet man sich von diesen Werken eines wilden aber regellosen Heroismus, in dem die neuesten Ereignisse jener Länder sich mit wunderbarer Klarheit spiegeln, zu den Liedern, die uns von den Inseln, oder aus Thessalonich, Smyrna, Para kommen, wo kaum der Wiederhall der kriegerischen Stürme gehört wird, so sind es friedsame Scenen, milde Gefühle der Liebe, der Freude, der Trauer, die uns entgegentreten: anmuthige Legenden und Balladen, Lieder der Mütter, der Ammen, Gesänge beim Reigentanz, bei Hochzeiten, oder bei Trennung und Tod, Serenaden und Liebesklagen, in denen oft die Weichheit und Milde des ionischen Himmels sich über Sprache, Bilder und Maß ausbreitet, wie in dem Liede von der Trennung zweier Liebenden, das hier als äußerster Gegensatz jenes rauhen Heldengesanges stehen mag:

Meine braune Nelkenblume, meine blaue Hyacinthe,
Neige dich zu meinem Gruße, neige dich zum Liebeskusse,
Daß ich scheide mit Verdrusse, weil mein Vater es gebietet.

Meine braune Nelkenblume, meine blaue Hyacinthe,
Neige dich zum meinem Gruße, neige dich zum Liebeskusse,
Daß ich scheide mit Verdrusse, weil die Mutter es gebietet.

Tag und Stunde sind gekommen, daß wir von einander scheiden,
Um auf ewig uns zu meiden; und mir bricht das Herz im Busen,
Daß wir von einander scheiden, um auf ewig uns zu meiden.

Und die Augen strömen Thränen, kreisen wild in irrem Wähnen.
Daß wir von einander scheiden, um auf ewig uns zu meiden.

Die Gedichte nun, welche bis jetzt zu unsrer Kenntniß gekommen sind, obwohl beträchtlich an Zahl und Mannigfaltigkeit, sind doch nur ein sehr geringer Theil von denjenigen, welche dort im Munde des Volkes leben und die beinahe jeder Tag sich vermehren oder umgestalten sieht. Ihre Urheber sind im Volke selbst, und so wenig, wie Homer und Ossian es waren, im Stande zu schreiben oder zu lesen, Pallikaren in ihren Lagerstätten, Hirten bei der Heerde, Schiffer in den müßigen Stunden ihrer Fahrt, Jungfrauen bei ihrem häuslichen Geschäfte – Jeder, den der innere Trieb bewegt, ohne Absicht, als auszusprechen, was der Nächste auffaßt und weiter bringt. Zumeist thun dieses die Blinden, welche ein uralter Gebrauch darauf hinweist, solche Lieder zu lernen und dadurch zu verbreiten, daß sie bei Festen und Gelagen oder im Kreise zufälliger Hörer ihren Inhalt zur Leyer vortragen. Mehrere dieser blinden Sänger, die Jeder gerne empfängt, gerne hört, tragen solcher Lieder eine unerschöpfliche Menge bei sich im Gedächtniß, einige, eine begünstigtere Classe, vermehren ihren Vorrath durch neue Gesänge, oder schmücken die überlieferten schöner aus. Es ist bekannt, daß eine alte griechische Sage den Sänger der Iliade als blinden Greis bezeichnet und ihm ähnliches Loos zutheilt, zum Zeichen, daß auch hier in Bezug

  1. Das. I. S. 38.
  2. Das. I. S. 128.
Empfohlene Zitierweise:
: Das Ausland. 1,2.1828. Cotta, München 1828, Seite 587. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_Ausland_(1828)_613.jpg&oldid=- (Version vom 28.5.2023)