Seite:Das Geheimnis eines Lebens.pdf/34

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

das ich meinem Vater gegeben hatte. Diesen sah ich ebenso selten wie früher in Kalkutta. Er schrieb jeden Monat einmal, bald aus England, bald aus den Vereinigten Staaten. – Im Herbst des Jahres 1896 erschien er dann plötzlich in Genf und holte mich ab. Der Pensionsinhaberin gab er an, er wolle nach Italien zurückkehren. Nun begannen für uns monatelange Kreuz- und Querzüge durch ganz Europa. Nie blieben wir länger als einige Tage an einem Orte. So verging ein halbes Jahr – oft genug habe ich damals meinen Vater gefragt, weshalb wir denn ruhelos wie Flüchtlinge von Stadt zu Stadt zögen. Aber nie erhielt ich eine bündige Antwort darauf. Er machte stets Ausflüchte. „Wenn Du mich lieb hast, Maria, so frage nicht. Besondere Umstände sprechen hier mit, die Du noch nicht verstehen kannst.“ Dies und Ähnliches blieb seine ganze Erwiderung. Und ich beruhigte mich stets aufs neue dabei. Denn ich liebte meinen Vater, der mich geradezu auf Händen trug, über alles. Ich möchte hier noch erwähnen, daß er in den letzten Jahren sehr, sehr gealtert war. Sein Haar und der Bart, den er sich wieder hatte stehen lassen, waren völlig ergraut, und auch sonst hatte er völlig das Aussehen eines Greises, trotzdem er eben erst die Fünfzig überschritten hatte. – Im Frühjahr 1897 kamen wir dann in Danzig an. Zu meiner Überraschung fand ich hier eine völlig eingerichtete Wohnung vor, die mein Vater, wie ich nachher erfuhr, bereits vor fünf Jahren gemietet, aber nur immer für kurze Zeit bewohnt hatte. Ebenso neu war mir, daß er inzwischen als angeblicher Russe die preußische Staatsangehörigkeit erworben hatte. Ich lebte mich schnell in die neuen Verhältnisse ein und wäre glücklich und zufrieden gewesen, wenn mich nicht das Geheimnisvolle, das die Personen meines Vaters umgab, stets aufs neue gestört haben würde. An meinem achtzehnten Geburtstage sollte ich dann endlich wenigstens etwas über all die sonderbaren Rätsel aufgeklärt werden. „Mein Kind,“ sagte er damals zu mir,

Empfohlene Zitierweise:
Walther Kabel: Das Geheimnis eines Lebens. Verlag moderner Lektüre G.m.b.H., Berlin 1920, Seite 33. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_Geheimnis_eines_Lebens.pdf/34&oldid=- (Version vom 31.7.2018)