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„Armer Karl!“ dachte Anna Wieland, „Du ahnst ja nicht, wie weit Deine Frau sich bereits in ein trauriges Lügengewebe verstrickt hat.“




5. Kapitel.

„Herr Doktor, ich bin wirklich meines Vaters wegen in Sorge. Er ist schon seit Nachmittag von Hause fort, und jetzt, – ja, es ist gleich 10 Uhr. Ich bin es gar nicht gewöhnt, daß er mich verläßt, ohne mir den Zeitpunkt seiner Rückkehr wenigstens ungefähr anzugeben. Und heute eilte er in so merkwürdiger Hast von dannen, nachdem er mit jemandem ein längeres Telephongespräch geführt hatte. Er rief mir nur noch zu: „Adieu, Kind! Wann ich heimkehre, weiß ich nicht,“ und dann war er auch schon fort.“

„Ich kann Ihre Sorgen völlig zerstreuen“, sagte Dreßler zu dem schmächtigen Geschöpfchen, das ihm gegenüber an dem Tisch in Jakob Wenzels Wohnzimmer saß. „Ich weiß zufällig, daß er in einer geschäftlichen Angelegenheit in der Stadt zu tun hat. Er wird zweifellos bald wiederkommen. Jedenfalls brauchen Sie ihn nicht allein zu erwarten, Fräulein Wera, – falls Sie gestatten, daß ich noch bleibe,“ fügte er höflich hinzu.

Über das blasse Gesichtchen der verwachsenen Tochter Jakob Wenzels huschte eine flüchtige Röte.

„Bitte, Herr Doktor, bleiben Sie nur. Ich unterhalte mich sehr gern mit Ihnen, das wissen Sie ja.“

Es war ein eigenartiges Verhältnis, in dem Doktor Dreßler zu den Bewohnern der Parterreräume seines Hauses stand. Als er vor zwei Jahren hier einzog, hatte er sich in der ersten Zeit nicht viel um sie gekümmert. Dann brachte es ein Zufall mit sich, daß in dem Schaufenster von Jakob Wenzels Laden eines Tages eine mit eingelegter Arbeit reich verzierte Beduinenflinte auftauchte. Dreßler kaufte die Waffe, und bei dieser Gelegenheit merkte er, einen wie kunstverständigen Sinn der kleine Händler besaß. Nicht nur

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Walther Kabel: Das Geheimnis eines Lebens. Verlag moderner Lektüre G.m.b.H., Berlin 1920, Seite 41. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_Geheimnis_eines_Lebens.pdf/42&oldid=- (Version vom 31.7.2018)