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Wenn Sie erst alles erfahren haben, dürften Sie es wahrscheinlich selbst für am richtigsten halten, Ihren Bruder fürs erste in die eigentliche Sachlage nicht einzuweihen.“

Wortlos, nur bisweilen wie in ungläubigem Erstaunen den Kopf schüttelnd, hörte das junge Mädchen zu.

„Und jetzt, wo Sie die vorliegenden Verhältnisse bis ins einzelne zu überschauen vermögen,“ fügte Dreßler hinzu, nachdem es nichts mehr zu berichten gab, – „jetzt sagen Sie mir ganz offen, Fräulein Anna, Sie, die Sie Ihren Bruder wohl mit am besten kennen werden: Meinen Sie, daß Karl sich so leicht damit abfinden wird, eine junge Dame mit einer so mysteriösen Vergangenheit, noch dazu unter einem falschen Namen, zur Frau genommen zu haben?“

Anna Wieland schwieg unschlüssig und zeichnete nachdenklich mit dem Schirm verschlungene Linien auf den noch taufeuchten Boden.

„Karl liebt Maria unendlich, – das ist ja auch Ihnen bekannt, Herr Doktor,“ meinte sie dann. „Trotzdem dürfte meines Bruders seelisches Gleichgewicht aufs schwerste erschüttert werden, wenn er von all diesen rätselhaften Dingen etwas erfährt. Karl ist eben seinen ganzen Anschauungen nach ein großer Feind aller unklaren Verhältnisse, jeder Heimlichkeit. Man könnte ihn in dieser Beziehung beinahe einen Pedanten nennen. Daher bin ich auch dafür: Wir wollen ihn zunächst über Durgassows Vergangenheit und die damit in Zusammenhang stehenden jetzigen Ereignisse im Unklaren lassen. Vielleicht bietet sich uns später ein Weg, ihm die Enttäuschung, von seiner Frau in gewisser Weise hintergangenen zu sein, ganz zu ersparen.“

„Ich freue mich, daß Sie sich auf meinen Standpunkt stellen, Fräulein Anna,“ sagte Dreßler, ihr warm die Hand hinstreckend, da er sich durch diese ihre Meinungsäußerung auch in seinem eigenen Gewissen sehr beruhigt fühlte. „Es ist immer eine heikle Sache, einem so guten Freunde gegenüber, wie Karl

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Walther Kabel: Das Geheimnis eines Lebens. Verlag moderner Lektüre G.m.b.H., Berlin 1920, Seite 57. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_Geheimnis_eines_Lebens.pdf/58&oldid=- (Version vom 31.7.2018)