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Dreßler aber schalt sich einen Toren, daß er auch heute nicht den Mut gefunden hatte, Anna Wieland seine Liebe zu gestehen, gerade heute, wo er aus ihren Reden und ihrem ganzen Verhalten eine so beglückende Erkenntnis hatte schöpfen können.

Als die beiden gerade an der Haltestelle der Straßenbahn angelangt waren, begegnete ihnen Wera Wenzel, die anscheinend gleichfalls von einem Spaziergang zurückkehrte, da sie einen großen Strauß von Feldblumen und Gräsern in der Hand trug. Dreßler grüßte vertraulich, erhielt aber nur einen recht flüchtigen Gegengruß. Und es entging ihm nicht, wie forschend die Augen des verwachsenen Mädchens die Gestalt und das Gesicht seiner Begleiterin überflogen hatten.

„Das war meine Hausgenossin Wera Wenzel,“ sagte er erklärend zu Anna Wieland. „Ich habe Ihnen von dem armen Geschöpfchen bereits mehrfach gesprochen, dessen verunstalteter Körper eine so künstlerische, reiche Seele birgt.“

„Ich entsinne mich. Es ist die Tochter des kleinen Trödlers aus Ihrem Hause. Schade, daß das Schicksal dem armen Wesen zu dem feinen, geistvollen Antlitz nicht auch einen entsprechenden Körper beschert hat,“ meinte sie mitfühlend.

Dann bestiegen sie den Wagen der Straßenbahn.

Wera Wenzel hatte, als sie an den beiden vorüber war, die Lippen wie gepeinigt von einem plötzlichen körperlichen Schmerz fest aufeinander gepreßt. Ihr blasses Gesicht war noch um eine Schattierung bleicher geworden, und ganz unbewußt trieben die jagenden Gedanken sie immer schneller vorwärts. Das also war die Glückliche, die Hans Dreßler liebte, – jene Anna Wieland, von der er ihr so oft erzählt hatte, die fast täglich mit ihm zusammensein durfte! Dieses schöne, schlanke Weib würde er einst heimführen, kein Zweifel, – die würde seinen Namen tragen, die würde er mit seiner Liebe beglücken, diese Beneidenswerte, die nicht so mißgestaltet war wie sie, die arme, bucklige Wera! – Bitterer Neid fraß sich in ihrer

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Walther Kabel: Das Geheimnis eines Lebens. Verlag moderner Lektüre G.m.b.H., Berlin 1920, Seite 60. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_Geheimnis_eines_Lebens.pdf/61&oldid=- (Version vom 31.7.2018)