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Seite:Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (Dritte Fassung).pdf/30

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ihren weitverstreuten Trümmern gelassen abenteuerliche Reisen unternehmen. Unter der Großaufnahme dehnt sich der Raum, unter der Zeitlupe die Bewegung. Und so wenig es bei der Vergrößerung sich um eine bloße Verdeutlichung dessen handelt, was man »ohnehin« undeutlich sieht, sondern vielmehr völlig neue Strukturbildungen der Materie zum Vorschein kommen, so wenig bringt die Zeitlupe nur bekannte Bewegungsmotive zum Vorschein, sondern sie entdeckt in diesen bekannten ganz unbekannte, »die gar nicht als Verlangsamungen schneller Bewegungen sondern als eigentümlich gleitende, schwebende, überirdische wirken.«[1] So wird handgreiflich, daß es eine andere Natur ist, die zu der Kamera als die zum Auge spricht. Anders vor allem dadurch, daß an die Stelle eines vom Menschen mit Bewußtsein durchwirkten Raums ein unbewußt durchwirkter tritt. Ist es schon üblich, daß einer vom Gang der Leute, sei es auch nur im Groben, sich Rechenschaft ablegt, so weiß er bestimmt nichts von ihrer Haltung im Sekundenbruchteil des Ausschreitens. Ist uns schon im Groben der Griff geläufig, den wir nach dem Feuerzeug oder dem Löffel tun, so wissen wir doch kaum von dem, was sich zwischen Hand und Metall dabei eigentlich abspielt, geschweige wie das mit den verschiedenen Verfassungen schwankt, in denen wir uns befinden. Hier greift die Kamera mit ihren Hilfsmitteln, ihrem Stürzen und Steigen, ihrem Unterbrechen und Isolieren, ihrem Dehnen und Raffen des Ablaufs, ihrem Vergrößern und ihrem Verkleinern ein. Vom Optisch-Unbewußten erfahren wir erst durch sie, wie von dem Triebhaft-Unbewußten durch die Psychoanalyse.


XIV


Es ist von jeher eine der wichtigsten Aufgaben der Kunst gewesen, eine Nachfrage zu erzeugen, für deren volle Befriedigung die Stunde noch nicht gekommen ist.[2] Die Geschichte jeder

  1. Rudolf Arnheim, l. c. [S. 490], p. 138.
  2. »Das Kunstwerk«, sagt André Breton, »hat Wert nur insofern als es von Reflexen der Zukunft durchzittert wird.« In der Tat steht jede ausgebildete Kunstform im Schnittpunkt dreier Entwicklungslinien. Es arbeitet nämlich einmal die Technik auf eine bestimmte Kunstform hin. Ehe der Film auftrat, gab es Photobüchlein, deren [501] Bilder durch einen Daumendruck schnell am Beschauer vorüberflitzend, einen Boxkampf oder ein Tennismatch vorführten; es gab die Automaten in den Bazaren, deren Bilderablauf durch eine Drehung der Kurbel hervorgerufen wurde. – Es arbeiten zweitens die überkommenen Kunstformen in gewissen Stadien ihrer Entwicklung angestrengt auf Effekte hin, welche später zwanglos von der neuen Kunstform erzielt werden. Ehe der Film zur Geltung kam, suchten die Dadaisten durch ihre Veranstaltungen eine Bewegung ins Publikum zu bringen, die ein Chaplin dann auf natürlichere Weise hervorrief. – Es arbeiten drittens oft unscheinbare, gesellschaftliche Veränderungen auf eine Veränderung der Rezeption hin, die erst der neuen Kunstform zugute kommt. Ehe der Film sein Publikum zu bilden begonnen hatte, wurden im Kaiserpanorama Bilder (die bereits aufgehört hatten, unbeweglich zu sein) von einem versammelten Publikum rezipiert. Dieses Publikum befand sich vor einem Paravant, in dem Stereoskope angebracht waren, deren auf jeden Besucher eines kam. Vor diesen Stereoskopen erschienen automatisch einzelne Bilder, die kurz verharrten und dann anderen Platz machten. Mit ähnlichen Mitteln mußte noch Edison arbeiten, als er den ersten Filmstreifen (ehe man eine Filmleinwand und das Verfahren der Projektion kannte) einem kleinen Publikum vorführte, das in den Apparat hineinstarrte, in welchem die Bilderfolge abrollte. – Übrigens kommt in der Einrichtung des Kaiserpanoramas besonders klar eine Dialektik der Entwicklung zum Ausdruck. Kurz ehe der Film die Bildbetrachtung zu einer kollektiven macht, kommt vor den Stereoskopen dieser schnell veralteten Etablissements die Bildbetrachtung durch einen Einzelnen noch einmal mit derselben Schärfe zur Geltung wie einst in der Betrachtung des Götterbilds durch den Priester in der cella.