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Robert Kraft: Das Seegespenst (Das Buch für Alle, Illustrierte Familienzeitung, Heft 17)

Das Seegespenst.


Erzählung von Robert Kraft.
(Nachdruck verboten.)

Ich kam von langer Reise, die ich als zweiter Steuermann gemacht, nach Hamburg zurück. Das ganze Schiff wurde abgemustert. Ich ließ mich auf dem Seemannsamt als heuersuchender Offizier einschreiben und fuhr inzwischen nach der fernen Heimat. Freilich hatte ich wenig Aussicht, auf diese Weise eine neue Heuer zu bekommen.

Schon nach wenigen Tagen aber erhielt ich ein Telegramm, das mich nicht wenig in Erstaunen versetzte: „Willst du als Erster bei mir fahren? Sofort her! Paul Müller, Kapitän der Portland, Liverpool. Zurzeit Hamburg.“

Ich war sprachlos. Mein Freund Paul Kapitän eines englischen Dampfers? Und zwar, wie mir das mitgenommene Schiffsregister sagte, eines von sechstausend Tonnen?

Wir waren zusammen als Schiffsjungen und als Matrosen gefahren, sechs Jahre lang, hatten zusammen die Steuermannsschule besucht, dann erst waren wir getrennt worden. Mir gelang es, auf einem Segler als zweiter Offizier anzukommen, und als ich zwei Jahre später wieder etwas von Paul hörte, war er zuletzt noch immer als Matrose gefahren. Wieviele haben das Steuermannspatent in der Tasche und müssen noch als Matrose vor dem Mast fahren! Ich hatte unterdessen ja auch schon mein Kapitänsexamen gemacht und war immer wieder froh, wenn ich als zweiter Steuermann ankam.

Fünf Jahre waren seit unserer Trennung verflossen. Vor zwei Jahren also war Paul noch Matrose gewesen. Seitdem hatte ich nichts wieder von ihm gehört. Und jetzt war er Kapitän eines großen englischen Dampfers? Der hatte ja höllisch fix vorwärts gemacht!

Ich fuhr sofort nach Hamburg. Es war richtig mein alter Freund Paul. Erst siebenundzwanzig Jahre alt, aber ein ganzer Mann. Vor drei Jahren war es ihm gelungen, zum ersten Male eine Stelle als zweiter Steuermann zu bekommen. Auf einem englischen Dampfer war es. Der Kapitän war Mitbesitzer des Schiffes, ja der ganzen Reederei, die gar viele Schiffe fahren ließ. Und er wurde auf seinen Fahrten beständig von seiner Tochter begleitet, die sogar an Bord geboren und erzogen worden war.

Dieses Mädchen verliebte sich in den deutschen Steuermann. Nach der Rückkehr in Liverpool wurde gleich Hochzeit gemacht. Die Heirat durfte an ihrem Leben nichts ändern. Das Schiff sollte ihre Heimat bleiben, sie wollte, wie bisher ihren Vater, nun ihren Mann begleiten.

Aber ihr Gatte sollte nicht unter anderem Kommando stehen. Die inzwischen mündig gewordene Eveline hatte, da sie durch die verstorbene Mutter Mitbesitzerin der Reederei geworden war, auch ein gar gewichtiges Wort zu sagen. Ihr Mann sollte Kapitän werden. Zwar hatte er hierfür noch nicht die genügende Fahrzeit als Steuermann, aber das ließ sich schon machen.

So war es gekommen, daß Paul im Handumdrehen Kapitän geworden war. Und er bewährte sich. Man hätte gar nicht erst den Versuch mit einem kleinen Dampfer zu machen brauchen. Ob groß oder klein, das ist ja überhaupt ganz gleich. Mancher Küstenschiffer hat mehr im kleinen Finger als mancher Offizier des größten Passagierdampfers im Kopfe.

Diese ideale Ehe, die im buchstäblichen Sinn des Wortes Mann und Weib in Sonnenschein und Regensturm, in Freud und Leid vereinte, sollte leider nicht lange währen.

„Nur ein Jahr dauerte sie,“ sagte Paul finster. „Sie fand ihren Tod –“

„Ihren Tod – gefunden?“ wiederholte ich erstaunt.

„Eine Sturzsee wusch sie über Bord – auf der Höhe von Trinidad.“

Mehr erfuhr ich nicht. Wir hatten es auch sehr eilig. Der erste Steuermann hatte den Arm gebrochen. Ich kam an seine Stelle, hatte bei der Übernahme der letzten Fracht alle Hände voll zu tun und alle Gedanken zusammenzunehmen.

Wir fuhren nach Lissabon. Während der achttägigen Fahrt kam es zu keiner weiteren Aussprache. Zwischen dem Kapitän und der ganzen übrigen Besatzung, die Offiziere mit einbegriffen, ist ja überhaupt eine unübersteigbare Schranke gezogen. Der Kapitän auch des kleinsten Schiffes nimmt eine abgesondertere Stellung ein als der Kaiser von Japan in seinem Reiche. Er ißt allein, hält sich auch sonst immer allein, jede vertrauliche Annäherung zwischen Kapitän und Steuermann ist an Bord des Schiffes vollkommen ausgeschlossen.

Nun allerdings kann es ja, wie überall, auch hier einmal eine Ausnahme geben. Nur nicht im Dienst. Aber wenn ich von der Freiwache war, hätte der Kapitän mich schon einmal in die Kajüte rufen können, um ein Stündchen freundschaftlich mit mir zu plaudern. Doch hierzu war keine Zeit. Wenigstens der Kapitän hatte sie nicht. Immer schlechtes Wetter, immer Nebel, dabei die auf eigene Rechnung gehende Fracht sehr gefährlich - Düngersalze! Deshalb war er nur ganz schwach versichert, sonst wäre kein Verdienst dabei gewesen, beim kleinsten Leck wäre das Schiff wie ein vollgesaugter Schwamm weggesackt. Paul kam nicht von der Kommandobrücke, nicht aus den Stiefeln, schlief nur am Tage wenige Stunden im Kartenhaus auf dem Sofa. Nein, da war keine Zeit zu Privatunterhaltungen.

Glücklich erreichten wir Lissabon. Noch vor dem Einlaufen in den Hafen brachte ein Dampfboot den kaufmännischen Vertreter der Reederei an Bord, der neue Dispositionen gab. Die Fracht sollte nicht in Lissabon gelöscht werden, sondern aus irgend einem Grunde in Collare, an der Westküste der großen Landzunge gelegen, welche die Bucht von Lissabon einschließt.

Wir dampften in wenigen Stunden hin, der kleine Hafen konnte uns wohl aufnehmen, aber nicht sogleich, denn die Einfahrt ist sehr ungünstig, für tiefgehende Schiffe viel zu seicht. Wir mußten die Flut abwarten, die erst in vier Stunden eintrat.

So gingen wir auf der Reede vor Anker. Als das Manöver unter meinem Kommando beendet war, ging Paul selbst noch einmal nach der Back, wo die Ankerkette ausgesteckt war, und blickte über die Bordwand.

Mit einem Male fuhr er zurück, und ich sah, wie sein Gesicht ganz blaß wurde.

„Mein Trauring! Und heute ist Evelinens Todestag!“

Der Goldreif war ihm, als er die Hand über Bord gehalten, vom Finger gefallen. Er mochte schon immer lose gesessen haben, und während der letzten so aufreibenden Tage war Paul wirklich ganz merklich abgemagert.

Also heute vor einem Jahre war seine unglückliche Gattin über Bord gespült worden. Merkwürdiger Zufall!

„Klar den Taucherapparat!“ sagte Paul ganz ruhig und ging in die Kajüte, um sich darauf vorzubereiten. Er wollte selbst tauchen. Er mußte es wohl gelernt haben. Denn gelernt will das sein. Das weiß jeder, der es einmal probiert hat. Ich habe mich des Spaßes halber einmal in den Gummianzug stecken und mir den Helm aufschrauben lassen, bin aber nur bis in eine Tiefe von vier Meter gekommen. Da hatte ich schon genug. Das Sausen in den Ohren wurde zu gräßlich. Und hier betrug die Tiefe vierzehn Meter. Einen Menschen, der noch nie getaucht hat, in solch eine Tiefe hinabzuschicken, so einfach sonst auch alles ist, ist eine Unmöglichkeit. Ganz langsam nach und nach muß man sich an den Wasserdruck gewöhnen, der das furchtbare Ohrensausen erzeugt.

Unten mußte der Ring leicht zu finden sein. Es war fester, weißer Muschelkalkboden, der Ring mußte gleich neben dem Anker liegen, dessen Kette bei dem jetzt herrschenden Stauwasser fast lotrecht hinablief.

Die Taucherpumpe und alles, was dazugehörte, wurde an Deck gebracht. Dabei stellte es sich so im Gespräch heraus, daß noch kein einziger der ganzen Mannschaft getaucht hatte. Es war eine in Liverpool ganz neu angemusterte Besatzung. Einige wußten wohl, daß des Kapitäns junge Gattin voriges Jahr über Bord gespült worden war, aber sonst auch nichts weiter, so wenig wie ich.

Der Kapitän kam, brachte alles in Ordnung und instruierte uns über die Handhabung der Pumpe. Alles übrige war einfach genug. Wenn der Himmel es nicht anders wollte, konnte trotz unserer sonstigen Unkenntnis gar nichts passieren. Auch ein Telephon war vorhanden, so daß die Signalleine ganz überflüssig gewesen wäre. Die Lampe wurde elektrisch gespeist, wir hatten zur Beleuchtung des ganzen Schiffes eine Dynamomaschine, die Akkumulatoren lieferten noch genug Strom.

Erst wurde eine Prüfung außerhalb des Wassers vorgenommen. Alles funktionierte tadellos. Dann ging der Kapitän mit aufgeschraubtem Helm am Fallreep hinab, langsam sahen wir ihn untersinken, bis er in etwa drei Meter Tiefe unseren Blicken entschwunden war.

Zehn, elf, zwölf Meter wurden von Schlauch und Sicherheitsleine ausgesteckt. Jetzt mußte er unten sein, und das den Druck anzeigende Manometer sagte dasselbe.

„Noch etwas nachgeben!“ meldete das Telefon.

Wir gaben noch einen Meter Schlauch und Leine nach.

Fünf Minuten vergingen. Regelmäßig hoben und senkten sich die Pumpenschwengel.

„Auf – auf!“ schrie es da mit heiserer Stimme aus dem Telephon, und zugleich ward der Schlauch dem ihn haltenden Matrosen fast aus der Hand gerissen.

Schnell holten wir die Sicherheitsleine ein, aber noch schneller arbeitete sich der Taucher Hand über Hand an dem Schlauche empor. Mit auffallender Hast griff der Kapitän nach den Sprossen des Fallreeps, konnte nicht schnell genug die bleibewehrten Füße daraufsetzen, glitt ab, stürzte noch einmal ins Wasser, dann benahm er sich noch kopfloser - kurz, wir sahen sofort, daß ihm etwas passiert war. Entweder unten auf dem Meeresboden oder im Innern des Helms war etwas nicht in Ordnung, vielleicht bekam er keine Luft, wenn auch bei uns hier oben alles richtig funktionierte.

Das Abschrauben des Helmes erschwerte er uns dadurch, weil er ihn sich vom Kopfe reißen wollte, als wenn das möglich gewesen wäre.

Endlich kam sein Gesicht zum Vorschein – ein fahles, vor Todesangst ganz verzerrtes Gesicht.

„Um Gottes Willen, Kapitän, was ist Euch?“

Er gab keine Aufklärung, es war auch töricht, sie jetzt von ihm zu verlangen. Er stürzte davon, soweit ihm die schweren Bleisohlen ein Gehen erlaubten, glitt aus, schlug hin, raffte sich auf und verschwand in der Kajüte.

Ich lief ihm nach.

„Hinaus, hinaus, laßt mich allein!“

Ich mußte gehorchen.

Zehn Minuten später wurde ich vom Steward in die Kajüte gerufen. Paul hatte sich unterdessen des Taucherkostüms vollends entledigt, stürzte soeben ein großes Glas Selters mit Kognak hinab, sein Gesicht war nicht mehr so verzerrt, aber noch fahl genug.

„Robert – ich muß zu einem Menschen sprechen. Glaubst du – an Gespenster? Glaubst du, daß Tote wiederkommen?“

Er stieß es hervor, noch immer in furchtbarer Aufregung.

„Nein!“ entgegnete ich mit größter Bestimmtheit.

„Ich ja auch nicht. Und doch – ich habe sie gesehen dort unten - Eveline, meine Frau. Und sie winkte mir – winkte mir!“

Er setzte sich an den Tisch und starrte vor sich hin.

Dann beherrschte er sich und erzählte ganz ruhig.

Unten angekommen, hatte er eben in der Nähe des Ankers den Meeresboden abgeleuchtet. Der Blendstrahl drang etwa drei Meter durchs Wasser. Er konnte den Ring nicht erblicken.

„Ich war einmal niedergekniet, richtete mich wieder auf, drehte mich um, und da – da sehe ich drei Meter von mir entfernt ein Weib stehen, von einem grünen Schleier umflossen, so wie sich auch Eveline immer zu kleiden liebte, wenn sie zu ihrem Vergnügen eine Seenixe darstellte, was sie öfters zu tun liebte. Aber auch ihre Haare, die im Wasser hin und her schwebten, sind jetzt ganz grün. So steht sie aufrecht da – und es ist Eveline, wie sie leibt und lebt. Ich erkenne jeden Zug in ihrem weißen Gesicht, und sie winkt mir mit der erhobenen Hand, winkt mir –“

Wenn er daran glaubte, so war seine wieder ausbrechende furchtbare Aufregung begreiflich.

Ich blieb möglichst kühl. „Wie lange hast du sie beobachtet?“

„Ich weiß nicht.“

„Und dann verschwand sie?“

„Dann schrie ich ins Telefon, floh nach oben, und als sie nicht mehr von dem Lichtstrahl getroffen wurde, mußte sie ja verschwinden.“

„Du hattest sie wirklich im Lichtschein deiner Laterne?“

„Ganz deutlich!“

„Du hast natürlich nur eine Vision gehabt. Du hast während dieser acht Tage so wenig geschlafen, mußt ja total erschöpft sein. Und dann – sagtest du nicht, daß heute der Todestag deiner Frau sei?“

„Heute vor einem Jahre war’s – ja,“ murmelte er. „Natürlich, es war nur eine Vision. Aber dieses seltsame Zusammentreffen! Ich habe mein leichtsinnig gegebenes Wort, einen Schwur gebrochen.“

„Was für einen Schwur?“ fragte ich gespannt.

„Ach, Robert, meine Ehe war keine so glückliche, wie sie hätte sein können. Weißt du, sie war ja ein gutes Mädchen und wurde eine gute Frau, aber voller Launen war sie, phantastisch im höchsten Grade. Sie war an Bord geboren, an Bord groß geworden, sie hielt das Schiff oder vielmehr das Meer für ihre wahre Heimat, fühlte sich gewissermaßen Seenixe. Sie ließ sich, gerade wenn die ärgsten

Empfohlene Zitierweise:
Robert Kraft: Das Seegespenst (Das Buch für Alle, Illustrierte Familienzeitung, Heft 17). Union Deutsche Verlagsgesellschaft, Stuttgart 1910, Seite 380. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_Seegespenst.pdf/2&oldid=- (Version vom 31.7.2018)