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Robert Kraft: Das Seegespenst (Das Buch für Alle, Illustrierte Familienzeitung, Heft 17)

Sturzseen überkamen, oft an den Mast festbinden in der Nacht, wenn das Wasser phosphoreszierte, und da sang und deklamierte sie, da war sie die Meerkönigin. Es war ja Spielerei, aber sie nahm es für Ernst. Sie behauptete, sobald sie einen Fuß an Land setze, müsse sie sterben. Sie hat auch tatsächlich nie festes Land betreten. Auch unsere Hochzeit fand an Bord statt. Und nun noch eine ganze Masse solcher Schrullen. Ich habe einen Mann gekannt, der hatte eine hübsche, junge Frau – sonst ganz vernünftig, nur sehr rührselig – die kannte kein größeres Vergnügen, als von ihrem einstmaligen Leichenbegängnis zu sprechen, alles so recht schön auszumalen, wie Eltern und Verwandte weinend am Grabhügel stehen, wenn sich ihr Sarg hinabsenkt – sie bedauerte nur, daß sie dann nicht selber mit dabeistehen und weinen konnte. Schrecklich, solch eine Frau! So ein Mann ist zu bedauern. Und meine Eveline hatte ganz genau dieselbe Manie. Nur in einem anderen Genre. So in jugendlicher Schönheit dahinsterben – natürlich auf oder im Meere – so im Meere dahinschweben bis in alle Ewigkeit, unsterblich im Fleische, zum Meerweibe geworden – das mußte doch herrlich sein! Und dann sagte sie jedesmal: ‚Und nicht wahr, Paul, wenn ich tot bin, mein Grab im Meere gefunden habe – aber nicht etwa in Segeltuch genäht und auf ein Brett genagelt und mit einem Kohlensack beschwert – dann folgst du mir nach? Nicht wahr, du wirst ohne mich nicht mehr leben können? Du stürzest dich mir nach. Bringst nur noch das Schiff nach dem nächsten Hafen, dann folgst du mir nach, auf daß wir vereint im herrlichen Meere umherschweben können als freie Seegeister. Nicht wahr, Paul, das tust du?‘ Und da ließ sie, noch als meine Braut, nicht locker, ich mußte ihr mein Wort geben, mußte es ihr zuschwören –“

„Und das tatest du?“ fragte ich erschrocken.

„Was tut man nicht als verliebter Mensch. Sie ließ nicht locker, bis ich ihr lachend das Versprechen gab. Sie wollte es ernst genommen haben, ich sollte schwören. Ich tat ihr den Gefallen. Ich wollte sie mir schon noch erziehen, wenn sie nur erst meine Frau war. Aber es gelang mir nicht. Eine gute, herzige Frau, die mir alles an den Augen absah, nur für mich lebte, aber von ihrem Wahne konnte ich sie nicht abbringen. Und dann immer und immer wieder das Erinnern an mein Versprechen. Ich wurde schließlich ärgerlich und grob. Sie weinte. Da war ich wieder besiegt. Ich sprach von unseren Kindern, was denn aus denen werden sollte, wenn ich ihr in den Tod folgte. Ja, aber wir hatten ja noch keine Kinder. Und sie behauptete einfach, sie wisse bestimmt, sie bekomme keine. Sonst eigentlich ein wirklich heiterer Charakter, aber dieser Wahn - ach, wie hat mich das alles gequält!“

Paul stützte die Arme auf den Tisch und legte die Hände vors Gesicht. Ich konnte ihn nur bemitleiden.

„Heute vor einem Jahre,“ fuhr er dann leise fort, „befanden wir uns auf der Höhe von Trinidad. Das schönste Wetter, wohl hohe See, aber kein Überkommen. Eveline stand hinten am Heck. Da rollte eine mächtige Woge heran, der Flutwelle vorausgehend. Ich sah sie rechtzeitig kommen, sie mußte als Sturzsee übergehen. Ich schrie, Eveline hörte es nicht, sah nichts. Ich sprang mit beiden Füßen von der Brücke, stürzte nach hinten, da stürzte das Wasser schon über. Ich konnte mich gerade noch an den Wanten halten. Als ich wieder auftauchte, da sah ich sie treiben – schon weit vom Schiff. Noch einmal hob sie den Arm – und winkte mir, winkte mir –“

Er konnte nicht weitersprechen. Und ich fragte natürlich nicht erst, ob denn kein Boot ausgesetzt worden sei. Ich war doch selbst Seemann.

„Und heute, an ihrem Todestage, fällt mir der Trauring vom Finger!“

„Ja, ein merkwürdiges Zusammentreffen,“ sagte ich ruhig.

„Und da erscheint sie mir – und winkt mir – genauso wie damals!“

„Sie hat wohl nur die Arme hilfeflehend ausgestreckt.“

„Und winkt mir. Sage, muß ich denn meinen Schwur halten?“

„Um Gottes Willen,“ rief ich, „was denkst du!“

„Ich weiß es selbst. Es war schwach, furchtbar schwach von mir, daß ich nachgab, wenn es anfangs auch nur Scherz war. Ich bin der Menschheit andere Pflichten schuldig, als ein leichtsinnig gegebenes, unsinniges Versprechen zu halten.“

„Dachtest du denn daran, als du vorhin den Ring suchtest?“

„Ja, natürlich dacht ich an alles das,“ erklärte er. „So ist die Vision eben entstanden. – Komm, hilf mir, daß ich die Bleistiefel wieder anziehe.“

„Du willst doch nicht nochmals hinab?“ rief ich erschrocken.

Er sah mich groß an. „Warum denn nicht? Es war doch nur eine Vision. Oder denkst du, ich glaube an Gespenster? Nein, ich will meinen Ring wieder haben. Kapitän Paul Müller kann wohl einmal erschrecken, aber so etwas wie Furcht gibt’s nicht. Laß alles wieder in Ordnung bringen, ich gehe nochmals hinab!“

Aber es sollte nichts daraus werden. Die Flut hatte eingesetzt, daß Schiff war abgetrieben, ehe der Anker gefaßt hatte. Jetzt konnte jene Stelle gar nicht mehr bestimmt werden.

Paul wäre trotzdem noch einmal getaucht, allein er mußte schließlich das Vergebliche solchen Beginnens selbst einsehen.

Wir gingen in den Hafen von Collare, löschten innerhalb vier Tagen die Ladung, nahmen Ballast und bekamen Order nach Buenos Aires.


Seit sieben Tagen befanden wir uns wieder auf hoher See. Immer war gutes Wetter, der Kapitän konnte den versäumten Schlaf nachholen, er bekam schnell sein früheres, gesundes Aussehen wieder.

Es war früher Nachmittag, ich hatte Wache. Der Bootsmann meldete, daß das Patentlog nicht mehr funktioniere. Es ist dies eine Art von Uhr, hinten am Heck angebracht: eine an einem Seile nachschleifende kleine Schraube dreht sich durch den Widerstand des Wassers, dreht auch das Seil mit, in der Uhr werden dadurch Räder gerückt, Zeiger melden die gefahrenen Knoten.

Die Zeiger rückten nicht mehr.

Der Kapitän ging selbst hin, ich holte eine neue Uhr aus dem Kartenhause.

Wie ich mittschiffs unter der Brücke hervorkomme, sehe ich den Kapitän allein hinten an der Bordwand stehen, mit ausgestrecktem Arm, höre ihn einen lauten Schrei ausstoßen.

Mit zwei Sätzen war ich dort.

„Da – da war sie wieder! Eveline! Und sie winkte mir – winkte mir!“

Ganz außer sich war er. Wieder wollte er sie ganz deutlich gesehen haben, hinten im Kielwasser, zwar nicht mit dem Kopfe herauskommend, aber doch ganz, ganz deutlich sichtbar, mit dem grünen Kleid, mit dem grünen, nachschwebenden Haare, ihm immer zuwinkend. Lange, lange wollte er sie gesehen haben. Ein Zeitmaß fehlte freilich. Und diesmal im hellsten Sonnenscheine! Er ließ sich nicht davon abbringen.

„Vision soll es wieder gewesen sein? Bin ich denn ein wahnsinniger Narr?! Laßt Euch doch nicht auslachen, Steuermann!“

Er ließ mich stehen.

Jetzt wurde mir die Sache doch bedenklich. Paul sah doch gerade jetzt so gesund aus, hatte auch sonst nicht die geringste Spur von Nervosität gezeigt. Was sollte man davon denken?

Er blieb den ganzen Tag unsichtbar, kam erst des Nachts wieder auf die Brücke.

„Ihr denkt natürlich noch immer, es wäre wieder nur eine Vision gewesen,“ begann er.

„Was soll denn –“

„Schon gut. Eine Erklärung kann ich nicht geben, aber gesehen habe ich sie doch.“

Schon bei Sonnenaufgang stellte er sich am anderen Morgen wieder ein, als ich abermals Wache hatte. Jetzt sah er wieder recht schlecht aus, sehr hohläugig, mochte nicht geschlafen haben, sagte aber das Gegenteil.

„Heute Nacht,“ begann er von selbst, „ist sie mir im Traume erschienen. Nun käme sie nur noch einmal, erklärte sie, dann aber würde sie mich auch holen, ob ich nun wolle oder nicht. Glaubst du an solchen Unsinn, Robert?“ Er lachte grimmig.

Dieses Lachen gefiel mir gar nicht, so wenig wie sein Aussehen, wie sein ganzes Benehmen.

Da brach etwas an der Maschine. Die Reparatur mußte einige Stunden in Anspruch nehmen.

„Da – da – da!“ schrieen plötzlich einige Matrosen, über die Steuerbordreling deutend. „Ein Seegespenst, eine Wassernixe!“

Ich sprang an die Bordwand.

Was soll ich sagen?

Da schwebt dort unten im Wasser ein Weib, von einem grünen Gewand umgaukelt, um den Kopf grüne Haare, sie blickt zu uns empor, den rechten Arm erhebend. Der Kopf ist vielleicht noch einen halben Meter unter dem Wasserspiegel, die ganze Gestalt aber bis zu den Füßen vollkommen sichtbar.

Wir waren an die zwanzig Mann, die den Spuk sahen.

Sie schien wieder zu verschwinden, immer winkend.

„Himmel und Hölle, jetzt mach’ ich dem Teufelsspuk ein Ende – so oder so!“ knirschte es da neben mir. Es war der Kapitän, und da sauste er auch schon im weiten Hechtsprunge über die Brüstung weg, direkt auf die Gestalt zu.

Und er hatte sie!

Ich sah ganz deutlich, wie er die Arme um sie schlang und sie auch die ihren um ihn. Oder doch den einen. Dann aber waren die beiden auch gleich in die Tiefe gegangen, waren sofort verschwunden.

Wir starrten und starrten. Die Gestalt war verschwunden. Der Kapitän kam nicht wieder.

Lange dauerte unser entsetztes Starren freilich nicht.

Ein Boot wurde ausgesetzt, mit Stangen und mit Haken an langen Seilen gefischt.

Und wir brachten sie wirklich herauf – sie, das Meerweib.

Und was war es?

Eine hölzerne Gallionsfigur, wie eine solche noch heute fast jedes Segelschiff vorn am Bugsprit führt, meist den Schiffsnamen symbolisierend. Das hier war ein Weib von menschlicher Größe, oder noch etwas größer, hatte den rechten Arm ausgestreckt, der aber am Ellbogen gebrochen war, der Unterarm mit der Hand hing nur noch durch einen Holzspan mit dem Ganzen zusammen. Daher bei der leisesten Wasserbewegung die winkende Bewegung des Armes. Und mit unserem Schiffe war die Figur mit einem langen Strick verbunden, der sich wahrscheinlich am Kupferbeschlag des Kiels festgeklemmt hatte. Das Holz hatte sich vollgesaugt, schwebte eben noch im Wasser. Das grüne Gewand war Seetang, der sich auch in den Rillen der hölzernen Locken festgesetzt hatte.

Die abgebrochene Gallionsfigur hatte sich uns offenbar irgendwo angeheftet, vielleicht erst auf der Reede von Collare. Jedenfalls hatte der Kapitän schon dort beim Tauchen sie erblickt. Gestern hatte er die nachgeschleifte Figur hinten im Kielwasser gesehen, und heute tauchte sie vor unser aller Blicken auf.

Ja, nun war alles erklärt.

Und der Kapitän?

Der war weg. Er tauchte nicht von selber wieder auf, wir fischten ihn auch nicht auf.


Empfohlene Zitierweise:
Robert Kraft: Das Seegespenst (Das Buch für Alle, Illustrierte Familienzeitung, Heft 17). Union Deutsche Verlagsgesellschaft, Stuttgart 1910, Seite 382. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_Seegespenst.pdf/3&oldid=- (Version vom 31.7.2018)