Seite:Das Stundenbuch (Rilke) 009.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

Und manchmal bin ich wie der Baum,
der, reif und rauschend, über einem Grabe

10
den Traum erfüllt, den der vergangne Knabe

(um den sich seine warmen Wurzeln drängen)
verlor in Traurigkeiten und Gesängen.


Du, Nachbar Gott, wenn ich dich manches Mal
in langer Nacht mit hartem Klopfen störe, –
so ists, weil ich dich selten atmen höre
und weiß: Du bist allein im Saal.

5
Und wenn du etwas brauchst, ist keiner da,

um deinem Tasten einen Trank zu reichen:
ich horche immer. Gib ein kleines Zeichen.
Ich bin ganz nah.

Nur eine schmale Wand ist zwischen uns,

10
durch Zufall; denn es könnte sein:

ein Rufen deines oder meines Munds –
und sie bricht ein
ganz ohne Lärm und Laut.

Aus deinen Bildern ist sie aufgebaut.

15
Und deine Bilder stehn vor dir wie Namen.

Und wenn einmal das Licht in mir entbrennt,
mit welchem meine Tiefe dich erkennt,
vergeudet sichs als Glanz auf ihren Rahmen.

Und meine Sinne, welche schnell erlahmen,

20
sind ohne Heimat und von dir getrennt.


Wenn es nur einmal so ganz stille wäre.
Wenn das Zufällige und Ungefähre

Empfohlene Zitierweise:
Rainer Maria Rilke: Das Stundenbuch. Leipzig: Insel-Verlag. 1918, Seite 9. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_Stundenbuch_(Rilke)_009.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)