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verstummte und das nachbarliche Lachen,
wenn das Geräusch, das meine Sinne machen,

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mich nicht so sehr verhinderte am Wachen –


Dann könnte ich in einem tausendfachen
Gedanken bis an deinen Rand dich denken
und dich besitzen (nur ein Lächeln lang),
um dich an alles Leben zu verschenken

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wie einen Dank.


Ich lebe grad, da das Jahrhundert geht.
Man fühlt den Wind von einem großen Blatt,
das Gott und du und ich beschrieben hat
und das sich hoch in fremden Händen dreht.

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Man fühlt den Glanz von einer neuen Seite,

auf der noch alles werden kann.

Die stillen Kräfte prüfen ihre Breite
und sehn einander dunkel an.


Ich lese es heraus aus deinem Wort,
aus der Geschichte der Gebärden,
mit welchen deine Hände um das Werden
sich ründeten, begrenzend, warm und weise.

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Du sagtest leben laut und sterben leise

und wiederholtest immer wieder: Sein.
Doch vor dem ersten Tode kam der Mord.
Da ging ein Riß durch deine reifen Kreise
und ging ein Schrein

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und riß die Stimmen fort,
Empfohlene Zitierweise:
Rainer Maria Rilke: Das Stundenbuch. Leipzig: Insel-Verlag. 1918, Seite 10. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_Stundenbuch_(Rilke)_010.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)