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Ich fühle dich. An meiner Sinne Saum
beginnst du zögernd, wie mit vielen Inseln,

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und deinen Augen, welche niemals blinzeln,

bin ich der Raum.

Du bist nicht mehr inmitten deines Glanzes,
wo alle Linien des Engeltanzes
die Fernen dir verbrauchen mit Musik, –

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du wohnst in deinem allerletzten Haus.

Dein ganzer Himmel horcht in mich hinaus,
weil ich mich sinnend dir verschwieg.


Ich bin, du Ängstlicher. Hörst du mich nicht
mit allen meinen Sinnen an dir branden?
Meine Gefühle, welche Flügel fanden,
umkreisen weiß dein Angesicht.

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Siehst du nicht meine Seele, wie sie dicht

vor dir in einem Kleid aus Stille steht?
Reift nicht mein mailiches Gebet
an deinem Blicke wie an einem Baum?

Wenn du der Träumer bist, bin ich dein Traum.

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Doch wenn du wachen willst, bin ich dein Wille

und werde mächtig aller Herrlichkeit
und ründe mich wie eine Sternenstille
über der wunderlichen Stadt der Zeit.


Mein Leben ist nicht diese steile Stunde,
darin du mich so eilen siehst.
Ich bin ein Baum vor meinem Hintergrunde,
ich bin nur einer meiner vielen Munde

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und jener, welcher sich am frühsten schließt.
Empfohlene Zitierweise:
Rainer Maria Rilke: Das Stundenbuch. Leipzig: Insel-Verlag. 1918, Seite 16. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_Stundenbuch_(Rilke)_016.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)