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Erst wenn es dunkelt lassen wir dich los:
Und deine kommenden Konturen dämmern.

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Gott, du bist groß.


Du bist so groß, daß ich schon nicht mehr bin,
wenn ich mich nur in deine Nähe stelle.
Du bist so dunkel; meine kleine Helle
an deinem Saum hat keinen Sinn.

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Dein Wille geht wie eine Welle,

und jeder Tag ertrinkt darin.

Nur meine Sehnsucht ragt dir bis ans Kinn
und steht vor dir wie aller Engel größter:
ein fremder, bleicher und noch unerlöster,

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und hält dir seine Flügel hin.


Er will nicht mehr den uferlosen Flug,
an dem die Monde blaß vorüberschwammen,
und von den Welten weiß er längst genug.
Mit seinen Flügeln will er wie mit Flammen

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vor deinem schattigen Gesichte stehn

und will bei ihrem weißen Scheine sehn,
ob deine grauen Brauen ihn verdammen.


So viele Engel suchen dich im Lichte
und stoßen mit den Stirnen nach den Sternen
und wollen dich aus jedem Glanze lernen.
Mir aber ist, sooft ich von dir dichte,

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daß sie mit abgewendetem Gesichte

von deines Mantels Falten sich entfernen.

Empfohlene Zitierweise:
Rainer Maria Rilke: Das Stundenbuch. Leipzig: Insel-Verlag. 1918, Seite 21. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_Stundenbuch_(Rilke)_021.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)