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Er ist der schönste Schleier ihrer Schmerzen,
der sich an ihre wehen Lippen schmiegt,
sich über ihnen fast zum Lächeln biegt –

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und von dem Licht aus sieben Engelskerzen

wird sein Geheimnis nicht besiegt.


Mit einem Ast, der jenem niemals glich,
wird Gott, der Baum, auch einmal sommerlich
verkündend werden und aus Reife rauschen;
in einem Lande, wo die Menschen lauschen,

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wo jeder ähnlich einsam ist wie ich.


Denn nur dem Einsamen wird offenbart,
und vielen Einsamen der gleichen Art
wird mehr gegeben als dem schmalen Einen.
Denn jedem wird ein andrer Gott erscheinen,

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bis sie erkennen, nah am Weinen,

daß durch ihr meilenweites Meinen,
durch ihr Vernehmen und Verneinen
verschieden nur in hundert Seinen
ein Gott wie eine Welle geht.

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Das ist das endlichste Gebet,

das dann die Sehenden sich sagen:
die Wurzel Gott hat Frucht getragen,
geht hin, die Glocken zu zerschlagen;
wir kommen zu den stillern Tagen,

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in denen reif die Stunde steht.

Die Wurzel Gott hat Frucht getragen.
Seid ernst und seht.

Empfohlene Zitierweise:
Rainer Maria Rilke: Das Stundenbuch. Leipzig: Insel-Verlag. 1918, Seite 25. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_Stundenbuch_(Rilke)_025.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)