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Ich bete nachts oft: Sei der Stumme,
der wachsend in Gebärden bleibt
und den der Geist im Traume treibt,

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daß er des Schweigens schwere Summe

in Stirnen und Gebirge schreibt.

Sei du die Zuflucht vor dem Zorne,
der das Unsagbare verstieß.
Es wurde Nacht im Paradies:

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sei du der Hüter mit dem Horne,

und man erzählt nur, daß er blies.


Du kommst und gehst. Die Türen fallen
viel sanfter zu, fast ohne Wehn.
Du bist der Leiseste von allen,
die durch die leisen Häuser gehn.

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Man kann sich so an dich gewöhnen,

daß man nicht aus dem Buche schaut,
wenn seine Bilder sich verschönen,
von deinem Schatten überblaut;
weil dich die Dinge immer tönen

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nur einmal leis und einmal laut.


Oft wenn ich dich in Sinnen sehe,
verteilt sich deine Allgestalt;
du gehst wie lauter lichte Rehe,
und ich bin dunkel und bin Wald.

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Du bist ein Rad, an dem ich stehe:

von deinen vielen dunklen Achsen
wird immer wieder eine schwer
und dreht sich näher zu mir her,

Empfohlene Zitierweise:
Rainer Maria Rilke: Das Stundenbuch. Leipzig: Insel-Verlag. 1918, Seite 32. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_Stundenbuch_(Rilke)_032.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)