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Ich höre jeden in mir schreiten

und breite meine Einsamkeiten
von Anbeginn zu Anbeginn.


Ihr vielen unbestürmten Städte,
habt ihr euch nie den Feind ersehnt?
O daß er euch belagert hätte
ein langes schwankendes Jahrzehnt.

5
Bis ihr ihn trostlos und in Trauern,

bis daß ihr hungernd ihn ertrugt;
er liegt wie Landschaft vor den Mauern,
denn also weiß er auszudauern
um jene, die er heimgesucht.

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Schaut aus vom Rande eurer Dächer:

da lagert er und wird nicht matt
und wird nicht weniger und schwächer
und schickt nicht Droher und Versprecher
und Überreder in die Stadt.

15
Er ist der große Mauerbrecher,

der eine stumme Arbeit hat.


Ich komme aus meinen Schwingen heim,
mit denen ich mich verlor.
Ich war Gesang, und Gott, der Reim,
rauscht noch in meinem Ohr.

5
Ich werde wieder still und schlicht,

und meine Stimme steht;

Empfohlene Zitierweise:
Rainer Maria Rilke: Das Stundenbuch. Leipzig: Insel-Verlag. 1918, Seite 35. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_Stundenbuch_(Rilke)_035.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)