Seite:Das Stundenbuch (Rilke) 040.jpg

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Die Dichter haben dich verstreut
(es ging ein Sturm durch alles Stammeln),
ich aber will dich wieder sammeln
in dem Gefäß, das dich erfreut.

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Ich wanderte in vielem Winde;

da triebst du tausendmal darin.
Ich bringe alles, was ich finde:
als Becher brauchte dich der Blinde,
sehr tief verbarg dich das Gesinde,

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der Bettler aber hielt dich hin;

und manchmal war bei einem Kinde
ein großes Stück von deinem Sinn.

Du siehst, daß ich ein Sucher bin.

Einer, der hinter seinen Händen

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verborgen geht und wie ein Hirt;

(mögst du den Blick der ihn beirrt,
den Blick der Fremden von ihm wenden.)
Einer, der träumt, dich zu vollenden
und: daß er sich vollenden wird.


Selten ist die Sonne im Sobór.[1]
Die Wände wachsen aus Gestalten,
und durch die Jungfraun und die Alten
drängt sich, wie Flügel im Entfalten,

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das goldene, das Kaiser-Tor.


An seinem Säulenrand verlor
die Wand sich hinter den Ikonen;
und, die im stillen Silber wohnen,


  1. Sobór (russ.): (kirchliche) Versammlung, Konzil.
Empfohlene Zitierweise:
Rainer Maria Rilke: Das Stundenbuch. Leipzig: Insel-Verlag. 1918, Seite 40. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_Stundenbuch_(Rilke)_040.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)