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wenn es Mond wird über das plane,
langvergangene Land.
Gestalte dich, Stille. Gestalte

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die Dinge (es ist ihre Kindheit,

sie werden dir willig sein).
Sei Heide, sei Heide, sei Heide,
dann kommt vielleicht auch der Alte,
den ich kaum von der Nacht unterscheide,

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und bringt seine riesige Blindheit

in mein horchendes Haus herein.

Ich seh ihn sitzen und sinnen,
nicht über mich hinaus;
für ihn ist alles innen,

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Himmel und Heide und Haus.

Nur die Lieder sind ihm verloren,
die er nie mehr beginnt;
aus vielen tausend Ohren
trank sie die Zeit und der Wind;

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aus den Ohren der Toren.


Und dennoch: mir geschieht,
als ob ich ein jedes Lied
tief in mir ihm ersparte.

Er schweigt hinterm bebenden Barte,

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er möchte sich wiedergewinnen

aus seinen Melodien.
Da komm ich zu seinen Knien:

und seine Lieder rinnen
rauschend zurück in ihn.

Empfohlene Zitierweise:
Rainer Maria Rilke: Das Stundenbuch. Leipzig: Insel-Verlag. 1918, Seite 48. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_Stundenbuch_(Rilke)_048.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)