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und ihre weißen Hände beben,
verwoben in ein wildes Leben,
wie Hunde in ein Bild der Jagd.

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Vergangenes steht noch bevor,

und in der Zukunft liegen Leichen,
ein Mann im Mantel pocht am Tor,
und mit dem Auge und dem Ohr
ist noch kein erstes Morgenzeichen,

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kein Hahnruf ist noch zu erreichen.

Die Nacht ist wie ein großes Haus.
Und mit der Angst der wunden Hände
reißen sie Türen in die Wände, –
dann kommen Gänge ohne Ende,

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und nirgends ist ein Tor hinaus.


Und so, mein Gott, ist jede Nacht;
immer sind welche aufgewacht,
die gehn und gehn und dich nicht finden.
Hörst du sie mit dem Schritt von Blinden

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das Dunkel treten?

Auf Treppen, die sich niederwinden,
hörst du sie beten?
Hörst du sie fallen auf den schwarzen Steinen?
Du mußt sie weinen hören; denn sie weinen.

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Ich suche dich, weil sie vorübergehn

an meiner Tür. Ich kann sie beinah sehn.
Wen soll ich rufen, wenn nicht den,
der dunkel ist und nächtiger als Nacht,
den Einzigen, der ohne Lampe wacht

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und doch nicht bangt; den Tiefen, den das Licht

noch nicht verwöhnt hat und von dem ich weiß,
weil er mit Bäumen aus der Erde bricht
und weil er leis

Empfohlene Zitierweise:
Rainer Maria Rilke: Das Stundenbuch. Leipzig: Insel-Verlag. 1918, Seite 55. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_Stundenbuch_(Rilke)_055.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)