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Seit dreimal hundert Jahren liegen sie,

und ihre Leiber können nicht zerfallen.
Das Dunkel häuft sich wie ein Licht, das rußt,
auf ihren langen lagernden Gestalten,
die unter Tüchern heimlich sich erhalten, –

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und ihrer Hände ungelöstes Falten

liegt ihnen wie Gebirge auf der Brust.

Du großer alter Herzog des Erhabnen:
hast du vergessen, diesen Eingegrabnen
den Tod zu schicken, der sie ganz verbraucht,

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weil sie sich tief in Erde eingetaucht?

Sind die, die sich Verstorbenen vergleichen,
am ähnlichsten der Unvergänglichkeit?
Ist das das große Leben deiner Leichen,
das überdauern soll den Tod der Zeit?

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Sind sie dir noch zu deinen Plänen gut?

Erhältst du unvergängliche Gefäße,
die du, der allen Maßen Ungemäße,
einmal erfüllen willst mit deinem Blut?


Du bist die Zukunft, großes Morgenrot
über den Ebenen der Ewigkeit.
Du bist der Hahnschrei nach der Nacht der Zeit,
der Tau, die Morgenmette und die Maid,

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der fremde Mann, die Mutter und der Tod.


Du bist die sich verwandelnde Gestalt,
die immer einsam aus dem Schicksal ragt,
die unbejubelt bleibt und unbeklagt
und unbeschrieben wie ein wilder Wald.

Empfohlene Zitierweise:
Rainer Maria Rilke: Das Stundenbuch. Leipzig: Insel-Verlag. 1918, Seite 69. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_Stundenbuch_(Rilke)_069.jpg&oldid=- (Version vom 17.8.2016)