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Sie sind wie Wind, der an die Zweige streift
und sagt: mein Baum.

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Sie merken kaum,

wie alles glüht, was ihre Hand ergreift, –
so daß sie's auch an seinem letzten Saum
nicht halten könnten, ohne zu verbrennen.

Sie sagen mein, wie manchmal einer gern

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den Fürsten Freund nennt im Gespräch mit Bauern,

wenn dieser Fürst sehr groß ist und – sehr fern.
Sie sagen mein von ihren fremden Mauern
und kennen gar nicht ihres Hauses Herrn.
Sie sagen mein und nennen das Besitz,

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wenn jedes Ding sich schließt, dem sie sich nahn,

so wie ein abgeschmackter Charlatan
vielleicht die Sonne sein nennt und den Blitz.
So sagen sie: mein Leben, meine Frau,
mein Hund, mein Kind, und wissen doch genau,

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daß alles: Leben, Frau und Hund und Kind

fremde Gebilde sind, daran sie blind
mit ihren ausgestreckten Händen stoßen.
Gewißheit freilich ist das nur den Großen,
die sich nach Augen sehnen. Denn die andern

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wollen’s nicht hören, daß ihr armes Wandern

mit keinem Dinge rings zusammenhängt,
daß sie, von ihrer Habe fortgedrängt,
nicht anerkannt von ihrem Eigentume,
das Weib so wenig haben wie die Blume,

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die eines fremden Lebens ist für alle.


Falle nicht, Gott, aus deinem Gleichgewicht.
Auch der dich liebt und der dein Angesicht

Empfohlene Zitierweise:
Rainer Maria Rilke: Das Stundenbuch. Leipzig: Insel-Verlag. 1918, Seite 79. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_Stundenbuch_(Rilke)_079.jpg&oldid=- (Version vom 17.8.2016)