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erkennt im Dunkel, wenn er wie ein Licht
in deinem Atem schwankt, – besitzt dich nicht.

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Und wenn dich einer in der Nacht erfaßt,

so daß du kommen mußt in sein Gebet:
 Du bist der Gast,
 der wieder weiter geht.

Wer kann dich halten, Gott? Denn du bist dein,
von keines Eigentümers Hand gestört,

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so wie der noch nicht ausgereifte Wein,

der immer süßer wird, sich selbst gehört.


In tiefen Nächten grab ich dich, du Schatz.
Denn alle Überflüsse, die ich sah,
sind Armut und armseliger Ersatz
für deine Schönheit, die noch nie geschah.

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Aber der Weg zu dir ist furchtbar weit

und, weil ihn lange keiner ging, verweht.
O, du bist einsam. Du bist Einsamkeit,
du Herz, das zu entfernten Talen geht.

Und meine Hände, welche blutig sind

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vom Graben, heb ich offen in den Wind,

so daß sie sich verzweigen wie ein Baum.
Ich sauge dich mit ihnen aus dem Raum,
als hättest du dich einmal dort zerschellt
in einer ungeduldigen Gebärde

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und fielest jetzt, eine zerstäubte Welt,

aus fernen Sternen wieder auf die Erde
sanft, wie ein Frühlingsregen fällt.

Empfohlene Zitierweise:
Rainer Maria Rilke: Das Stundenbuch. Leipzig: Insel-Verlag. 1918, Seite 80. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_Stundenbuch_(Rilke)_080.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)