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Vielleicht, daß ich durch schwere Berge gehe
in harten Adern, wie ein Erz allein;
und bin so tief, daß ich kein Ende sehe
und keine Ferne: alles wurde Nähe,

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und alle Nähe wurde Stein.


Ich bin ja noch kein Wissender im Wehe, –
so macht mich dieses große Dunkel klein;
bist du es aber: mach dich schwer, brich ein:
daß deine ganze Hand an mir geschehe

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und ich an dir mit meinem ganzen Schrein.


Du Berg, der blieb da die Gebirge kamen, –
Hang ohne Hütten, Gipfel ohne Namen,
ewiger Schnee, in dem die Sterne lahmen,
und Träger jener Tale der Zyklamen,

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aus denen aller Duft der Erde geht;

du, aller Berge Mund und Minaret
(von dem noch nie der Abendruf erschallte):

Geh ich in dir jetzt? Bin ich im Basalte
wie ein noch ungefundenes Metall?

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Ehrfürchtig füll ich deine Felsenfalte,

und deine Härte fühl ich überall.

Oder ist das die Angst, in der ich bin?
die tiefe Angst der übergroßen Städte,
in die du mich gestellt hast bis ans Kinn?

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O daß dir einer recht geredet hätte

von ihres Wesens Wahn und Abersinn.
Du stündest auf, du Sturm aus Anbeginn,
und triebest sie wie Hülsen vor dir hin ...

Empfohlene Zitierweise:
Rainer Maria Rilke: Das Stundenbuch. Leipzig: Insel-Verlag. 1918, Seite 83. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_Stundenbuch_(Rilke)_083.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)