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und Schoß von Frauen, welche viel gewähren? –
Wir haben mit der Ewigkeit gehurt,

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und wenn das Kreißbett da ist, so gebären

wir unsres Todes tote Fehlgeburt;
den krummen, kummervollen Embryo,
der sich (als ob ihn Schreckliches erschreckte)
die Augenkeime mit den Händen deckte

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und dem schon auf der ausgebauten Stirne

die Angst von allem steht, was er nicht litt, –
und alle schließen so wie eine Dirne
in Kindbettkrämpfen und am Kaiserschnitt.


Mach Einen herrlich, Herr, mach Einen groß,
bau seinem Leben einen schönen Schoß,
und seine Scham errichte wie ein Tor
in einem blonden Wald von jungen Haaren,

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und ziehe durch das Glied des Unsagbaren

den Reisigen den weißen Heeresscharen,
den tausend Samen, die sich sammeln, vor.
Und eine Nacht gib, daß der Mensch empfinge,
was keines Menschen Tiefen noch betrat;

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gib eine Nacht: da blühen alle Dinge,

und mach sie duftender als die Syringe
und wiegender denn deines Windes Schwinge
und jubelnder als Josaphat.
Und gib ihm eines langen Tragens Zeit

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und mach ihn weit in wachsenden Gewändern,

und schenk ihm eines Sternes Einsamkeit,
daß keines Auges Staunen ihn beschreit,
wenn seine Züge schmelzend sich verändern.

Erneue ihn mit einer reinen Speise,

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mit Tau, mit ungetötetem Gericht,
Empfohlene Zitierweise:
Rainer Maria Rilke: Das Stundenbuch. Leipzig: Insel-Verlag. 1918, Seite 88. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_Stundenbuch_(Rilke)_088.jpg&oldid=- (Version vom 17.8.2016)