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Aber nicht nur mit der Algebra, sondern auch mit der Funktionstheorie steht die Zahlentheorie in innigster wechselseitiger Beziehung. Wir erinnern an die zahlreichen und merkwürdigen Analogien, welche zwischen gewissen Tatsachen aus der Theorie der Zahlkörper und aus der Theorie der algebraischen Funktionen einer Veränderlichen bestehen, ferner an die tiefsinnigen Untersuchungen von Riemann, durch welche die Beantwortung der Frage nach der Häufigkeit der Primzahlen von der Kenntnis der Nullstellen einer gewissen analytischen Funktion abhängig gemacht wird. Auch die Transzendenz der Zahlen und ist eine arithmetische Eigenschaft einer analytischen Funktion, nämlich der Exponentialfunktion. Endlich ruht die so wichtige und weittragende, von Lejeune Dirichlet ersonnene Methode zur Bestimmung der Klassenanzahl eines Zahlkörpers auf analytischer Grundlage.

Am tiefsten aber berühren die periodischen Funktionen und gewisse Funktionen mit linearen Transformationen in sich das Wesen der Zahl: so ist die Exponentialfunktion als die Invariante der ganzen rationalen Zahl aufzufassen, insofern sie die Grundlösung der Funktionalgleichung darstellt. Ferner hatte schon Jacobi den engen Zusammenhang zwischen der Theorie der elliptischen Funktionen und der Theorie der quadratischen Irrationalitäten empfunden; er gibt sogar der Vermutung Raum, daß bei Gauss der oben erwähnte Gedanke der Einführung der ganzen imaginären Zahlen von der Form nicht auf rein arithmetischem Boden erwachsen ist, sondern durch Gauss’ gleichzeitige Untersuchungen über die lemniskatischen Funktionen und deren komplexe Multiplikation mitbedingt wurde. Es sind die elliptische Funktion für geeignete Werte ihrer Perioden und die elliptische Modulfunktion jedesmal die Invariante der ganzen Zahl eines bestimmten imaginären quadratischen Zahlkörpers. Diese als Invarianten bezeichneten Funktionen vermögen für die bezüglichen Zahlkörper gewisse tiefliegende und schwierige Probleme zur Lösung zu bringen, und umgekehrt verdankt die Theorie der elliptischen Funktionen dieser arithmetischen Auffassung und Anwendung einen neuen Aufschwung.

So sehen wir, wie die Arithmetik, die „Königin“ der mathematischen Wissenschaft, weite algebraische und funktionentheoretische Gebiete erobert und in ihnen die Führerrolle übernimmt. Daß dies aber nicht früher und nicht bereits in noch höherem Maße geschehen ist, scheint mir daran zu liegen, daß die Zahlentheorie erst in neuester Zeit in ihr reiferes Alter getreten ist. Sogar noch Gauss klagt über die unverhältnismäßig großen Anstrengungen, die ihn die Bestimmung eines Wurzelzeichens in der Zahlentheorie gekostet: es habe ihn „manches andere wohl nicht so viel Tage aufgehalten, als dieses Jahre“, und dann auf einmal, „wie der Blitz einschlägt“, habe sich „das Rätsel gelöset“. An Stelle eines solchen für das früheste Alter einer Wissenschaft charakteristischen, sprunghaften Fortschrittes ist heute durch den systematischen

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David Hilbert: David Hilbert Gesammelte Abhandlungen Erster Band – Zahlentheorie. Julius Springer, Göttingen 1932, Seite 65. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:David_Hilbert_Gesammelte_Abhandlungen_Bd_1.djvu/82&oldid=- (Version vom 31.7.2018)