Seite:De Arndt Mährchen 1 023.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

denn von denen, die sie kannten, ward niemand zu ihr gelassen, denn allein der Wächter, der ihr immer die Speise gebracht hatte im Thurme. Und ihre Schöne fing wieder an aufzublühen, wie blaß und elend sie auch aus dem Thurm gekommen war; und alle, die sie sahen, entsetzten sich über ihre Huld und Lieblichkeit, und sie däuchte ihnen fast einem Engel gleich, der vom Himmel in das Schloß gekommen sey.

Und als vierzig Tage vergangen waren und der Tag vor Johannis da war, da ging sie zu dem Könige ihrem Vater ins Gemach und sagte ihm Lebewohl. Und der alte Herr neigte noch einmal wieder seinen weissen Kopf über sie und weinte sehr; und sie sank vor ihm hin und umfaßte seine Kniee und weinte noch mehr. Und darauf ging sie hinaus und verkleidete sich so, daß niemand sie für eine Prinzessin gehalten hätte, und trat ihre Reise an. Die Reise war aber nicht weit von Bergen nach Gartz; und sie ging in der Tracht eines Reiterbuben einher. Und in der Nacht, als es vom Gartzer Kirchthurm zwölf geschlagen hatte, betrat sie einsam den Wall, that ihre Kleider von sich, also daß sie da stand, wie Gott sie erschaffen hatte, und nahm eine Johannisruthe in die Hand, womit sie hinter sich schlug. Und so tappte sie stumm und rücklings fort, wie es geschehen

Empfohlene Zitierweise:
Ernst Moritz Arndt: Mährchen und Jugenderinnerungen. Erster Theil. Berlin 1818, Seite 23. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Arndt_M%C3%A4hrchen_1_023.jpg&oldid=- (Version vom 17.8.2016)