Seite:De Arndt Mährchen 1 059.jpg

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     Einen Tag sie ging so wonniglich
Im Rosenhain spazieren,
Mein Bruder sah es und zorniglich
Ihr leise nach thät spüren.

     Er griff sie an ihrem linken Fuß
Mit reissigem Wolfesmunde,
Riß aus ihr Herz und trank ihr Blut
Und ward gesund zur Stunde.

     Noch bin ich ein kleines Vögelein
Das fliegt in wilden Haiden,
So jammervoll muß ich leben meine Zeit,
Doch meist in Winterzeiten.

     Doch Preis dem, der mir geholfen hat,
Daß ich die Zunge kann rühren,
Da ich nicht gesprochen in fünfzehn Jahr,
Wie mit Euch ich Rede kann führen.

     Aber gesungen hab’ ich immerdar
Mit lieblichen Nachtigallkehlen,
Und in dem allergrünsten Hain
Thät ich meinen Zweig mir wählen.

     Und horche du kleine Nachtigall,
Was dich wohl kann vergnügen,
Kannst sitzen im Winter im Hause mein,
Im Sommer wieder ausfliegen.

Empfohlene Zitierweise:
Ernst Moritz Arndt: Mährchen und Jugenderinnerungen. Erster Theil. Berlin 1818, Seite 59. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Arndt_M%C3%A4hrchen_1_059.jpg&oldid=- (Version vom 17.8.2016)