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barmherzig, man spricht: Der hat ein Herz, er mögte, wenn er könnte, jeden fliegenden Seufzer erlösen. Ich glaube aber, die sind nicht leicht zu erlösen. Davon muß ich nun auch eine kleine Geschichte erzählen.

Es war einmal eine schöne Prinzessin, die Tochter eines sehr reichen und mächtigen Königs, das war ein sehr liebes und frommes Kind. Aber das ward ihr Unglück, daß sie zu viel in alten Mährchenbüchern und Ritterbüchern gelesen und sich dadurch allerlei wunderliche und seltsame Einbildungen gemacht hatte. Sie hatte auch einmal die Geschichte von der schönen Seekönigin gelesen und von den armen Jünglingen, die vor lauter Sehnsucht vergangen sind und nun aus Quellen Bäumen Blättern und Blüthen ja aus harten Baumknorren und Steinen ächzen und seufzen und ihre Klagen winseln müssen. Das jammerte die schöne Prinzessin gar sehr und sie hat über ihren unzeitigen und jämmerlichen Tod manches Thränlein weinen müssen. Nun las sie eines Tages ein Mährchen, das überschrieben war: Alles durch Liebe, worin es hieß, wenn einer die rechte Liebe hätte und er fände in Eisen und Stein verzauberte und erstarrete Seelen, die darin harreten bis auf den großen Tag des Gerichts, und er legte sein liebendes Herz nur an die Steine und das Eisen, so müßten

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Ernst Moritz Arndt: Mährchen und Jugenderinnerungen. Erster Theil. Berlin 1818, Seite 441. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Arndt_M%C3%A4hrchen_1_441.jpg&oldid=- (Version vom 17.8.2016)