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Mann saß den ganzen Tag in seinem einsamen Kämmerchen und studierte Bücher verborgener Weisheit, das Mädchen aber lief in dem Garten herum und spielte sich von einer Blume zur andern und von einem Vogelnest zum andern. Des Nachts aber, wann das Mägdlein im süßen Schlaf lag, wandelte der Meister in dem Garten und auf der Waldhöhe und betrachtete den Lauf des gestirnten Himmels; denn er war ein gewaltiger Sternkundiger. Gesprochen, glaube ich, ist in keinem Hause auf Erden weniger als in diesem Hause, denn der Alte war fast immer still und in sich gekehrt und sprach nimmer ein Sterbenswort mit dem Kinde, als des Morgens, wo er sie im Katechismus und in Gottes Wort unterwies, und des Abends; wo er vor dem Schlafengehen mit ihr betete. Selten hat er ihr an den langen Winterabenden wohl einmal eine Geschichte erzählt, er hat ihr aber die allerhübschesten Geschicht– und Mährchen–Bücher mit den nied1ichsten Bildern geschenkt, worin sie lesen und sich die Zeit vertreiben konnte, wenn der Tag zu kurz war. Aber unendlich lieb hat der Mann das Kind gehabt und das Kind wieder den Mann, welchen es Vater nannte. Er hat es oft stundenlang auf feinem Schooß und an seiner Brust gehegt und es also an seinem Herzen einschlafen lassen; und dann sind ihm wohl die Thränen in die Augen gekommen und er hat die Hände gefaltet, gebetet, die Augen gen Himmel gehoben, und gesprochen: Allmächtiger, Barmherziger, laß dieses süße Kindlein glücklicher seyn, als ich gewesen bin! Den ganzen Tag aber, solange die Sonne am Himmel stand, spielte das Kind in seinem

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Ernst Moritz Arndt: Mährchen und Jugenderinnerungen/Zweiter Theil. Berlin 1843, Seite 282. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Arndt_M%C3%A4hrchen_2_282.jpg&oldid=- (Version vom 17.8.2016)