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Wer den Rabenstein haben will, der muß in der letzten Nacht des besagten Hornungs in den Wald gehen wo der Baum mit dem hoffnungsvollen Neste steht. Er muß ganz einsam und allein kommen, und auch keine Menschenseele muß wissen, wohin und wofür er ausgegangen ist; und auch keinen Laut, nicht einmal ein Hustchen oder ein Seufzerlein darf er von sich geben. Auf die Glocke der Zeit muß er Acht geben und genau um die Mitternachtstunde zur Stelle seyn; denn nur in der Gespensterstunde,

zwischen Zwölf und Eins in der Nacht, läßt der Stein sich gewinnen. Dann muß er sich so splinterfasernackt entkleiden, wie Adam weiland im Unschuldkleide der Natur im Garten Eden gestanden ist; und in diesem Naturkleide muß er nun den Stamm hinaufklettern und zitternd und bebend im Sinn behalten, daß er keinen Ton vernehmen lassen darf; denn alsbald ihm auch nur der leiseste Laut entführe, würde er gleich des Todes seyn. Aber nun merkt euch hiebei wieder des Teufels List. Wenn er den armen gierigen Kletterer bis oben zur Spitze hinaufgelockt hat, wo das heillose Nest sitzt, dann darf er nicht hineinschauen und sich den leuchtenden Stein aussuchen, sondern er muß sich nun noch dreimal um den Stamm herumschwingen, die Augen zuthun, und blind hineingreifen, und was sein Finger zuerst berührt, das muß er behalten. So hat sich’s oft begeben, daß Manche mit einem faulen Ei herunter gekommen sind und für alle Angst Arbeit und Schmerzen nur Spott gehabt haben. Es bringen es überhaupt wohl Wenige zu Stande mit dem Rabenstein, unter Hunderten, die ihn begehren, wohl kaum einer. Denn

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Ernst Moritz Arndt: Mährchen und Jugenderinnerungen/Zweiter Theil. Berlin 1843, Seite 352. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Arndt_M%C3%A4hrchen_2_352.jpg&oldid=- (Version vom 17.8.2016)