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Betrachtungsbücher werden zu Hilfe genommen, und das gehaltvollste, schönste und tiefste, die Briefe des heiligen Paulus, läßt man fast unbenutzt. Die Schwierigkeit des Verständnisses kann nicht als Entschuldigung gelten; die Kenntnis der dogmatischen Theologie nebst einem kurzen Kommentar genügen, um aus den reichen Schätzen der Erleuchtung, Erbauung und Tröstung zu schöpfen, die der Geist Gottes in diesen apostolischen Schreiben für uns niedergelegt hat. Von kaum einem anderen Buche der heiligen Schrift, die Evangelien ausgenommen, gilt in dem Maße das Wort des Völkerapostels, als von seinen eigenen Briefen: »Alles was geschrieben ist, ist zu unserer Belehrung geschrieben, damit wir durch Geduld und Trost aus der Schrift Hoffnung haben« (Röm. 15, 14).

Daneben beschäftigte ich mich damals eingehend mit den Schriften des heiligen Johannes vom Kreuz. Ich war erstaunt über die Klarheit und überzeugende Wahrheit der Darlegungen dieses großen Heiligen. Die christliche Grundlehre von der inneren Abtötung und Selbstverleugnung trägt kaum jemand so lichtvoll und überzeugend vor, wie er. Seine »Geistlichen Regeln und Denksprüche« sind Perlen himmlischer Weisheit, die man sich nicht sorgsam genug zu eigen machen kann. Die Schrift »Unterricht und Warnungen auf dem Weg zur Vollkommenheit« faßt auf wenigen Seiten die Lehre von der christlichen Vollkommenheit im Ordensstande in eindrucksvoller Weise zusammen; sie ist mir vom größten Nutzen gewesen. Auch auf die Höhen mystischer Beschauung folgte ich dem gotterleuchteten Führer gerne. Wohl blieb mir sehr vieles unverständlich, trotzdem hatte die Betrachtung dieser Dinge für mich einen eigentümlichen Reiz; sie gab mir gleichsam eine Ahnung von den großen und geheimnisvollen Wirkungen Gottes in den auserwählten Seelen; dieses Wirken auch nur von weitem und in dunkeln Umrissen zu schauen, ist ein hoher Genuß für die Seele. Daß es sich dabei nicht um ein unfruchtbares Schwelgen in geistigen Freuden handelte, zeigten die wirksamen Anregungen zur Liebe und Treue gegen Gott, die mir diese Betrachtungen gewährten.

Empfohlene Zitierweise:
Willibrord Benzler: Erinnerungen aus meinem Leben. Kunstverlag, Beuron 1922, Seite 55. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Benzler_Leben_55.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)