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Erster Brief.


In den Schriften der neueren Zeit ist so viel und so häufig von Chemie die Rede, dass eine bestimmtere Andeutung ihres Einflusses auf Gewerbe und Industrie, ihrer Beziehungen zur Agricultur, Physiologie und Medicin, vielleicht keine ganz undankbare Aufgabe genannt werden dürfte.

Möchte es mir in diesem ersten Briefe gelingen, die Überzeugung zu befestigen, dass die Chemie als selbstständige Wissenschaft eines der mächtigsten Mittel zu einer höheren Geistescultur darbietet, dass ihr Studium nützlich ist, nicht nur insofern sie die materiellen Interessen der Menschen fördert, sondern weil sie Einsicht gewährt in die Wunder der Schöpfung, welche uns unmittelbar umgeben, an die unser Dasein, Bestehen und unsere Entwickelung auf’s engste geknüpft sind.

Die Fragen nach den Ursachen der Naturerscheinungen, nach den Quellen des Lebens der Pflanzen und Thiere, nach dem Ursprung ihrer Nahrung, den Bedingungen ihrer Gesundheit und den Veränderungen in der Natur, der wir durch unseren körperlichen Leib angehören, diese Fragen sind dem menschlichen Geiste so angemessen, dass die Wissenschaften, welche befriedigende Antwort darauf geben, mehr wie alle andern Einfluss auf die Cultur des Geistes ausüben.

Das Studium der Naturwissenschaften als Mittel der Erziehung ist ein Bedürfniss unserer Zeit. Neben der Unterweisung in den Grundsätzen der Moral und Religion, der nächsten und wichtigsten Aufgabe derselben, sollen durch die Erziehung die verschiedenen menschlichen Fähigkeiten, der Individualität entsprechend, entwickelt und geübt werden, es soll der Geist einen gewissen Umfang allgemeiner und nützlicher Kenntnisse gewinnen. Keine unter allen Wissenschaften bietet dem Menschen eine grössere Fülle von Gegenständen des Denkens, der Ueberlegung und von frischer sich stets erneuernder Erkenntniss dar als wie die Chemie; keine ist mehr geeignet, das Talent der Beobachtung in der Entdeckung von Aehnlichkeiten und Verschiedenheiten in den Erscheinungen in gleicher Weise zu wecken und die Gesetze des Denkens in ihren strengen Methoden der Beweisführung für die Wahrheit einer Erklärung oder in der Aufsuchung der Ursachen und Wirkungen einer Erscheinung gleich anschaulich und geläufig zu machen. In demselben Grade, als der menschliche Geist an Einsicht zunimmt, die ihm von irgend einer Seite zufliesst, stärken

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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 1. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_001.jpg&oldid=- (Version vom 17.8.2016)