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Eine jede einzelne Entdeckung in der Chemie hat ähnliche Wirkungen in ihrem Gefolge, eine jede Anwendung ihrer Gesetze ist fähig, nach irgend einer Richtung hin dem Staate Nutzen zu bringen, seine Kraft, seine Wohlfahrt zu erhöhen.

In vielen Beziehungen besitzt die Chemie Aehnlichkeit mit der Mathematik; so wie diese letztere uns lehrt, Felder zu vermessen, Häuser zu bauen, Lasten zu heben, ist sie, wie die Rechenkunst, ein Instrument, dessen geschickte Handhabung augenfälligen Nutzen bringt. Auf der andern Seite befähigt die Mathematik den Menschen, richtige Vernunftschlüsse nach bestimmten Regeln zu ziehen; sie lehrt ihn eine eigenthümliche Sprache kennen, die ihm erlaubt, eine Reihe von Folgerungen auf eine ausserordentlich einfache Art in Linien und Zeichen auszudrücken, die Jedem verständlich sind, der diese Sprache kennt; sie lehrt ihn durch gewisse Operationen, die mit diesen Linien und Zeichen vorgenommen werden, Wahrheiten aufzufinden; sie lehrt ihn, klare Einsicht in vorher dunkle und unbekannte Verhältnisse zu gewinnen.

Der Mechaniker, der Physiker, der Astronom benutzen die Mathematik wie ein völlig unentbehrliches Instrument, welches ihnen als Mittel dient, um gewisse Zwecke zu erreichen; sie müssen in seiner Handhabung, in seinem Gebrauche so geübt sein, dass ihre Anwendung zu einer mechanischen Fertigkeit wird, die nur ihr Gedächtniss in Anspruch nimmt; aber das Instrument macht ja das Werk nicht, sondern der menschliche Geist. Sie werden zugeben, dass Ihnen ohne Urtheil, ohne Scharfsinn und Beobachtungsgabe alle mathematischen Kenntnisse nutzlos sind.

Sie kennen sich einen Menschen denken, der, begünstigt durch ein grosses Gedächtniss, sich mit allen Lehrsätzen der Mathematik auf’s vollkommenste vertraut gemacht hat, der es zu einer grossen Fertigkeit gebracht hat, mit diesem Instrumente umzugehen, ohne dass er im Stande ist, sich selbst eine Aufgabe zu geben. Wenn Sie ihm die Aufgabe, wenn Sie ihm die Bedingungen zur Lösung einer Frage geben, so gelingt es ihm, durch die Vornahme der ihm geläufigen Operationen zu einer Antwort zu gelangen, ausgedrückt in einer Formel, in gewissen Zeichen, deren Sinn ihm durchaus unverständlich ist, weil zur Beurtheilung der Wahrheit dieser Formel ihm wieder andere Bedingungen fehlen. Dies ist ein blosser Rechner; sobald er aber die Fähigkeit und das Talent besitzt, sich selbst eine Frage zu stellen und die Wahrheit seiner Rechnung zu prüfen, so wird er zum Naturforscher; denn wo sonst sollte die Aufgabe hergenommen sein, wenn nicht aus der Natur oder aus dem Leben?

Sie nennen ihn Mechaniker, oder Astronom, oder mathematischen Physiker, wenn er, von der Beobachtung ausgehend, den Zusammenhang gewisser Erscheinungen zu ermitteln, wenn er die Ursachen aufzufinden weiss, durch die sie hervorgebracht werden, wenn er die Resultate seiner Forschung nicht nur in einer Formel, in der Sprache des Mathematikers auszudrücken vermag, sondern wenn er überdies noch die Fertigkeit besitzt, eine Anwendung davon zu machen; wenn er die Formel also in einer Erscheinung wiedergeben und hierdurch ihre Wahrheit prüfen kann.

Der Astronom, der Physiker, der Mechaniker bedarf demnach zu der Mathematik, die er als Instrument gebraucht, noch der Kunst, Beobachtungen zu machen, die Erscheinungen zu interpretiren; es gehört dazu

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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 4. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_004.jpg&oldid=- (Version vom 17.8.2016)