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die Fähigkeit, einen Vernunftschluss in einer Erscheinung, in einer Maschine, durch einen Apparat wiederzugeben, eine Reihe von Schlüssen durch Versuche zu beweisen.

Der Physiker stellt sich die Lösung einer Frage, er will die Bedingungen einer Erscheinung, die Ursachen ihres Wechsels erforschen, und er gelangt, wenn die Frage richtig gestellt und alle Factoren in Rechnung genommen sind, durch Hülfe mathematischer Operationen zu einem einfachen Ausdruck der unbekannten Grösse oder des gesuchten Verhältnisses. Dieser Ausdruck erklärt, in Worte übersetzt, den Zusammenhang der beobachteten Erscheinungen, der von ihm angestellten Versuche; er ist wahr, wenn er ihm erlaubt, eine gewisse Reihe von andern Erscheinungen hervorzurufen, welche Folgerungen dieses Ausdrucks sind.

Sie sehen leicht ein, wie die Mathematik mit der Naturforschung zusammenhängt, dass neben der Mathematik ein hoher Grad von Einbildungskraft, Scharfsinn und Beobachtungsgabe dazu gehört, um nützliche Entdeckungen in der Physik, Astronomie oder Mechanik zu machen. Es ist ein ganz gemeiner Irrthum, dass man die Entdeckungen der Mathematik zuschreibt; es geht damit, wie in tausend Dingen, wo man die Wirkung mit der Ursache verwechselt. So schreibt man den Dampfmaschinen zu, was dem Feuer, den Steinkohlen, was dem menschlichen Geiste angehört. Zu Entdeckungen in der Mathematik gehört dieselbe Geisteskraft, derselbe Scharfsinn, das nämliche Denkvermögen wie zur Lösung anderer schwieriger Probleme; in Beziehung auf ihre Anwendungen sind es Vervollkommnungen des Instruments, unzähliger nützlicher Anwendungen fähig, allein die Mathematik macht in der Wissenschaft der Naturforschung, von sich selbst ausgehend, keine Entdeckungen, sie verarbeitet stets nur das Gegebene, das durch die Sinne Beobachtete, den durch den Geist geschaffenen neuen Gedanken.

Der mathematischen Physik gegenüber steht die Experimentalphysik; diese ist es, welche Thatsachen entdeckt, untersucht und dem mathematischen Physiker vorbereitet. Die Aufgabe der Experimentalphysik ist, die Gesetze, die aufgefundenen Wahrheiten durch Erscheinungen auszudrücken, die mathematische Formel durch Versuche zu erläutern und den Sinnen anschaulich zu machen.

Die Chemie verfährt in der Beantwortung ihrer Fragen in derselben Weise, wie die Experimentalphysik. Sie lehrt die Mittel kennen, welche zur Kenntniss der mannichfaltigen Körper führen, woraus die feste Erdrinde besteht, welche Bestandtheile des thierischen und vegetabilischen Organismus bilden.

Wir studiren die Eigenschaften der Körper, die Veränderungen, die sie in Berührung mit andern erleiden. Alle Beobachtungen zusammengenommen bilden eine Sprache; jede Eigenschaft, jede Veränderung, die wir an den Körpern wahrnehmen, ist ein Wort in der Sprache.

Die Körper zeigen in ihrem Verhalten gewisse Beziehungen zu andern, sie sind ihnen ähnlich in der Form, in gewissen Eigenschaften, oder weichen darin von ihnen ab. Diese Abweichungen sind eben so mannichfaltig, wie die Worte der reichsten Sprache; in ihrer Bedeutung, in ihren Beziehungen zu unsern Sinnen sind sie nicht minder verschieden.

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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 5. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_005.jpg&oldid=- (Version vom 17.8.2016)