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Natur und dem Verhältniss ihrer Elemente, in welchem Zusammenhang die Wirkung zu den Bestandtheilen steht. Nach den neuesten Entdeckungen bietet der Organismus dem Forscher zwar noch Unbegriffenes genug, aber nichts Unbegreifliches mehr dar.

Kaum ist bis jetzt eine Anforderung der Gewerbe, der Industrie, der Physiologie durch die wissenschaftliche Chemie unbefriedigt geblieben. Eine jede Frage, scharf und bestimmt gestellt, ist bis jetzt gelöst worden; nur wenn der Fragende selbst nicht klar über den Gegenstand war, über den er Erläuterungen begehrte, blieb er ohne Antwort.

Die letzte und höchste Aufgabe der Chemie ist die Erforschung der Ursachen der Naturerscheinungen, ihres Wechsels, so wie der Factoren, welche verschiedenartige Erscheinungen mit einander gemein haben; der Chemiker ermittelt die Gesetze, nach denen die Naturerscheinungen vor sich gehen, und er gelangt zuletzt, indem er alles durch die Sinne Wahrnehmbare und Erkannte zusammenfasst zu einem geistigen Ausdruck der Erscheinungen, zu einer Theorie.

Um aber in dem mit unbekannten Zeichen geschriebenen Buche lesen zu können, um es zu verstehen, um die Wahrheit einer Theorie klar einzusehen und die Erscheinungen, worauf sie gestützt, und die Kräfte, durch die sie hervorgebracht sind, unserm Willen unterthan zu machen, muss man nothwendig erst das Alphabet kennen lernen, man muss sich mit dem Gebrauch dieser Zeichen bekannt machen, man muss sich Uebung und Gewandtheit in ihrer Handhabung verschaffen, man muss die Regeln kennen lernen, welche den Combinationen zu Grunde liegen.

Aehnlich wie die höhere Mechanik, die Physik eine grosse Geübtheit in der mathematischen Analyse voraussetzt, muss der Chemiker als Naturforscher sich die vertrauteste Bekanntschaft mit der chemischen Analyse erworben haben. Alle seine Schlüsse, seine Resultate drückt er durch Versuche, durch Erscheinungen aus.

Jeder Versuch ist ein Gedanke, der den Sinnen wahrnehmbar gemacht ist durch eine Erscheinung. Die Beweise für unsere Gedanken, für unsere Schlüsse, so wie ihre Widerlegungen, sind Versuche, sind Interpretationen von willkürlich hervorgerufenen Erscheinungen.

Es war eine Zeit, wo die Chemie, ähnlich wie die Astronomie, die Physik und Mathematik, weiter nichts als eine durch Erfahrung ausgemittelte und in Regeln gebrachte Experimentirkunst war; seitdem man aber die Ursachen und Gesetze kennt, die diesen Regeln zu Grunde liegen, hat die Experimentirkunst ihre Bedeutung verloren.

Das mühsame, zeitraubende Erlernen von Handgriffen und Methoden, von Vorsichtsmassregeln in den chemischen Gewerben, in der Industrie, der Pharmacie, die sonderbaren Attribute des Chemikers früherer Zeit, ihre Oefen und Gefässe, sind zu Curiositäten geworden; alles dies erlernt sich nicht mehr, sondern es versteht sich von selbst, da man die Ursachen kennt, die es nothwendig gemacht haben. Das Gelingen eines Versuches, einer Operation hängt weit weniger von der mechanischen Geschicklichkeit als von Kenntnissen ab; das Missglücken beruht auf der mangelhaften Erkenntniss, das Entdecken auf Gewandtheit im Combiniren und auf der Kraft, welche neue Gedanken schafft.

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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 8. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_008.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)