Seite:De Chemische Briefe Justus von Liebig 010.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.


die sie nicht verstehen. Mit einem durchaus unbegreiflichen, unbestimmten, durch klare Vorstellungen nicht begrenzbaren Etwas erklären sie, was ihnen nicht begreiflich ist! In jeder Krankheit sei, so sagen sie, ein die physiologischen Kräfte befeindendes, selbstständiges Kraftwesen thätig! Und da eine exacte Einsicht in die physiologischen Vorgänge der Gesundheit, Krankheit und Heilung nimmer zu hoffen, so beruhe die Diätetik und Therapie vorzüglich auf der Kenntniss dessen, was in ähnlichen Fällen genützt und geschadet, und die Naturwissenschaften nebst Physiologie, Chemie und Anatomie dienten zunächst nur zur Vermehrung der Merkmale der Aehnlichkeiten und Unähnlichkeiten! Nur ihrer Systeme wegen, nur zur Feststellung ihrer Vorstellungen über Aehnlichkeit und Unähnlichkeit von Krankheitserscheinungen oder Nützlichkeit und Schädlichkeit von Arzneiwirkungen verdienten diese Wissenschaften einige Beachtung. Indem sie von vornherein auf die Quelle alles Wissens, auf eine exacte Naturerkenntniss verzichten, halten sie sich für die Propheten des Lichts und ihrem sich vergötternden Geiste erscheint auch der bescheidenste Widerspruch als Zeichen von Atheismus.

Derjenige, welcher den gegenwärtigen Standpunkt der Naturwissenschaften nicht kennt, dürfte, von dergleichen Aussprüchen verleitet, sich leicht der Ansicht hingeben, dass die Naturwissenschaften, die Physiologie und Chemie vor Jahrhunderten bereits entwickelt und auf ihrem Höhepunkte sich befanden, dass die Naturkräfte erforscht, ihre Gesetze festgestellt und alle Bemühungen gescheitert seien, durch sie eine exacte Einsicht in die Vorgänge des Lebens zu gewinnen, und dass der Weg, um zu dieser Einsicht zu gelangen, stets der richtige gewesen sei. Wäre dies der Fall, so würde ein Vernünftiger vielleicht zu dem Ausspruch verleitet werden können, eine solche Einsicht sei nimmer zu hoffen, ohne dass dieser Mangel an Hoffnung eine „Unmöglichkeit“ einschliesst; allein die physiologischen und chemischen Forschungen in dem Gebiete der Heilkunst und Diätetik sind erst in ihrer Kindheit, aber kaum begonnen, haben sie die volle Ueberzeugung befestigt, dass beide eine auf exacter physiologischer Einsicht beruhende wissenschaftliche Grundlage haben, dass die Vorgänge im lebendigen Leibe auf Naturgesetzen beruhen, und ein jeder Tag bringt Entdeckungen, welche beweisen, dass sie erforschbar sind. Die Wahrheit ist, dass es vor Jahrtausenden ausgezeichnete Aerzte gab, welche von Anatomie nichts wussten, und dass seit vielen Jahrhunderten mit Erfolg Krankheiten geheilt worden sind, ohne dass man die Natur und das Wesen derselben kannte, so wie man denn noch heute nicht weiss, was „Fieber“ oder „Entzündung“ ist; aber dem Schluss, dass eine exacte Einsicht in diese Vorgänge unmöglich sei, fehlt heutzutage alle und jede Grundlage.

Der Arzt, welcher die Medicin nicht als Wissenschaft, sondern als Experimentirkunst erlernt hat, erkennt keine Principien, sondern nur Regeln an, aus der Erfahrung entnommen, was in diesen und jenen Fällen gut und nicht gut wirkte. Nach dem Warum, nach den Ursachen fragt die Experimentirkunst nicht.

Von welchem Standpunkte aus würden aber die abnormen, die krankhaften Zustände im menschlichen Organismus beurtheilt werden, wenn uns die normalen mit genügender Sicherheit bekannt wären, wenn wir völlig

Empfohlene Zitierweise:
Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 10. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_010.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)