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klare Vorstellungen über die Verdauungs-, Assimilations- und die Excretionsprocesse hätten? Wie ganz anders würde die Behandlungsweise der Krankheiten sein! Ohne richtige Vorstellungen über Kraft, Ursache und Wirkung, ohne praktische Einsicht in das Wesen der Naturerscheinungen, ohne gründliche physiologische und chemische Bildung, ist es kein Wunder, dass sonst verständige Menschen die widersinnigsten Ansichten vertheidigen, dass in Deutschland die Lehre von Hahnemann aufkommen, dass sie Schüler in allen Ländern finden konnte.

Der Verstand allein schützt selbst Nationen nicht vor Aberglauben, aber das Kind verliert mit der Entwickelung seines Geistes und seiner Kenntnisse die Furcht vor Gespenstern.

Kann man von solchen Männern erwarten, dass sie aus den Entdeckungen der Chemie und Physiologie auch nur den kleinsten Nutzen ziehen, kann man sie für fähig halten, auch nur die unbedeutendste Anwendung davon zu machen, sie, die nicht das Wesen der Naturforschung mit philosophischem[1] Geiste erfassen, die nicht gelernt haben, die Sprache der Erscheinungen zu interpretiren?

Sie und ihre Geistesverwandten verdriesst es, dass die Wahrheit so einfach ist, obwohl es ihnen mit aller Mühe nicht gelingt, sie praktisch zu nützen.

Um das Wesen der Lebenskraft zu ergründen und ihre Wirkungen zu begreifen, müssen die Aerzte genau den Weg verfolgen, den man in der Physik und Chemie mit so grossem Erfolg betreten hat.

Sicher gab es keinen Zustand der Materie, welcher dem körperlichen und geistigen Auge verborgener und dunkler war, wie der, welchen wir mit elektrisch bezeichnen.

Ein Jahrtausend seit der Entwickelung der Physik ist vorübergegangen, ehe der menschliche Geist nur eine Ahnung von der ungeheuersten Naturgewalt hatte, die an allen Veränderungen der unorganischen Natur, an allen Processen des vegetabilischen und animalischen Lebens Antheil nimmt.

In Folge unermüdlicher Untersuchungen, unabgeschreckt durch Schwierigkeiten ohne Zahl, erwarb sich der Naturforscher ihre genaueste Bekanntschaft und machte sie zu seiner Dienerin; er weiss jetzt, dass sie mit Wärme, Licht und Magnetismus von Einer Mutter stammt, durch sie hat er sich die Geschwister unterthan gemacht, sie folgen seinem Rufe, mit ihrer Hülfe sendet er seine Gedanken in die grössten Entfernungen mit der Schnelligkeit des Blitzes, er lockt damit die edelsten Metalle aus ihren ärmsten Erzen, durch sie gelang es ihm zuerst, die wahre Natur der Bestandtheile des Erdkörpers zu ergründen, er setzt mit ihrer Hülfe Schiffe in Bewegung und vervielfältigt mit ihr Gegenstände der Kunst.

Eine Kraft lässt sich nicht sehen, wir können sie mit unsern Händen nicht fassen; um sie in ihrem Wesen und ihrer Eigenthümlichkeit zu erkennen, müssen wir ihre Aeusserungen studiren und ihre Wirkungen erforschen. Die einfache Beobachtung reicht aber hierzu nicht aus, weil der Irrthum stets an der Oberfläche liegt, die Wahrheit muss tiefer gesucht werden. Wenn wir eine Erscheinung, eine Thatsache falsch auffassen, unrichtig anknüpfen und auslegen, so heisst dies einen Irrthum


  1. WS: korrigiert, im Original: philosophichem
Empfohlene Zitierweise:
Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 11. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_011.jpg&oldid=- (Version vom 17.8.2016)