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begehen; wir schützen uns aber gegen Irrthum, wenn wir unsere Auffassung, die Auslegung der beobachteten Erscheinungen prüfen, wenn wir uns bemühen, ihre Wahrheit zu beweisen. Die Bedingungen, unter welchen die Erscheinung wahrgenommen wird, müssen erforscht, sind sie erkannt, so müssen sie geändert werden; der Einfluss dieser Aenderung muss Gegenstand von neuen Beobachtungen werden. Auf diesem Wege wird die erste Beobachtung berichtigt und dem Geiste klar, der Phantasie darf nichts überlassen werden. Der wahre Naturforscher erklärt und erläutert durch Thatsachen, durch Erscheinungen, deren Auffindung und Entdeckung seine Aufgabe ist, er lässt seinen Gegenstand sprechen. Kein Phänomen für sich allein genommen erklärt sich aus sich selbst, aber das, was damit zusammenhängt, wohl beobachtet und geordnet, führt zur Einsicht. Unverrückbar fest muss man im Auge behalten, dass eine jede Erscheinung ihren Grund, eine jede Wirkung ihre Ursache hat. (F. Bacon von Verulam.)

Die Meinung, dass die Schöpfungskraft der Natur vermögend sei, aus verwitterten Gebirgsarten, aus faulenden Pflanzenstoffen, die mannichfaltigsten Pflanzen, ja selbst Thiere ohne Samen zu erzeugen, der Horror vacui, der Spiritus rector, die Annahme, dass in dem lebendigen Thierkörper Eisen und Phosphor erzeugt werde, sie sind nur Folgen des Mangels an Untersuchungen gewesen, es sind Ausflüsse der Unwissenheit, der Trägheit und Unfähigkeit, den Ursprung oder die Ursachen aufzufinden. Eine einfache Wahrnehmung oder Tausende, die nicht in Zusammenhang gebracht sind, haben keine Beweiskraft. Wir haben kein Recht, uns Ursachen durch die Einbildungskraft zu schaffen, wenn wir in der Auffindung derselben auf dem Wege der Forschung scheitern, und wenn wir sehen, dass die Infusorien aus Eiern entstehen, so bleibt uns nur noch zu wissen übrig, auf welchen Wegen sie sich verbreiten.

Von dem Augenblicke an, wo wir der Einbildungskraft allein die Führung überlassen und ihr das Recht zuerkennen, die noch übrig bleibenden Fragen zu lösen, hört die Forschung auf. Die Wahrheit bleibt unermittelt; dies wäre noch das kleinste Uebel, das schlimmste aber ist, wenn die Phantasie an ihre Stelle ein hartnäckiges, bösartiges, missgünstiges Ungeheuer, den Irrthum, setzt, welcher der Wahrheit, versucht sie endlich sich Bahn zu brechen, entgegentritt, sie bekämpft und zu vernichten strebt; immer und zu allen Zeiten stand die alte Lüge an der Thüre, wenn die junge Wahrheit Einlass begehrte; so war es zu Galilei’s Zeit und ist es jetzt noch überall, in allen Wissenschaften, wo man Meinungen für Beweise gelten lässt. Wenn wir, unsere Unvollkommenheit erkennend, gestehen, dass wir mit unsern gegenwärtigen Hülfsmitteln die Frage nicht lösen, die Erscheinung nicht erklären können, so bleibt sie ein Problem, an welchem Tausende nach uns, eifrig und voller Muth, ihre Kräfte versuchen. Der Erfolg ist, dass sie früher oder später gelöst wird.

Mit der Erklärung befriedigt sich der Geist, der für wahr gehaltene Irrthum bringt dessen Thätigkeit, ganz wie die Wahrheit selbst, zur Ruhe.

Die Phantasie schafft in hunderttausend Fällen hunderttausend Irrthümer, und nichts ist schädlicher für die Fortschritte der Wissenschaft, nichts ist hemmender für die Einsicht, als ein alter Irrthum, denn es

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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 12. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_012.jpg&oldid=- (Version vom 17.8.2016)