Seite:De Chemische Briefe Justus von Liebig 015.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.


in ihnen ihr Vermögen und ihre Kraft wachsen, und wenn der Mensch im Druck seiner Existenz erleichtert, von den Schwierigkeiten nicht mehr überwältigt wird, die irdischen Sorgen zu tragen und zu beseitigen, dann erst wird sich sein Sinn, reiner und geläutert, dem Höheren und Höchsten zuwenden können.



Zweiter Brief.


Wenn es einem Naturforscher gelang, das Leben durch seine Forschungen zu bereichern, so zeigt die Geschichte der Naturwissenschaften, dass alle seine Erfolge lediglich auf einer Untersuchungsmethode beruhten, von welcher behauptet werden kann, dass von ihr die ausserordentlichen Fortschritte bedingt und hervorgerufen sind, welche die Gewerbe, die Industrie, die Mechanik, die Naturwissenschaften in den letzten 50 Jahren gemacht haben. Es sind dies die Wege der Erkenntniss und Forschung, die wir Franz Bacon und Galilei verdanken, welche eine falsche Philosophie Jahrhunderte lang aus der Medicin und den Naturwissenschaften verdrängt hatte, die aber jetzt durch ihre Siege immer mehr Boden im Interesse der Menschheit gewinnen. Die deutsche Naturphilosophie, wir sehen auf sie zurück wie auf einen abgestorbenen Baum, der das schönste Laub, die prächtigsten Blüthen, aber keine Früchte trug. Mit einem unendlichen Aufwand von Geist und Scharfsinn schuf man nur Bilder, aber auch die glänzendsten Farben sind, wie Goethe in seiner Farbenlehre behauptete, nur getrübtes Licht. Wir aber wollen und suchen das reine Licht und dies ist die Wahrheit.

Seit Jahrtausenden beschäftigt man sich mit der Erklärung von Naturerscheinungen, aber die Erklärung der philosophischen Schulen, von Aristoteles an bis auf die heutige Zeit, haben mit den unsrigen nichts mehr gemein.

Die Ursache des Falls eines Körpers, sagt Aristoteles, ist die Schwere; die Schwere ist aber das in dem Körper liegende Streben zur Bewegung abwärts (das Streben zu fallen). Ein Stein fällt, weil er schwer ist, d. h. weil er ein Bestreben hat sich abwärts zu bewegen, d. h. weil er fällt. Das Opium bringt Schlaf hervor, weil es ein Körper ist, dem eine schlafmachende Eigenschaft zukommt, d. h. weil es Schlaf macht. Die kaustischen Eigenschaften des gebrannten Kalks rührten von einem Ding Kaustikum her. Der sauere Geschmack der Säuren beruht auf dem Gehalt von Acidum universale.

Dem, was man sah in der Wirkung, unterlegte man ein Wort und dieses Wort nannte man die Ursache, und erklärte die Wirkung damit. Ein Ding gab dem Gold die Farbe, ein Ding gab ihm Unveränderlichkeit, man suchte dem Quecksilber, um es in Silber zu verwandeln, das Ding zu entziehen, was es flüssig machte, ein Ding machte die Körper hart, ein Ding (der Spiritus rector) gab den Körpern ihren Geruch, ein Ding Phlogiston war die Ursache der Brennbarkeit.

Empfohlene Zitierweise:
Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 15. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_015.jpg&oldid=- (Version vom 17.8.2016)