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will man wissen, welchen Antheil die Luft, welchen Antheil das Blut an der Erzeugung der thierischen Wärme nehmen.

Wenn die Ursachen einer Erscheinung unbekannt oder unerforscht sind, so lässt der Naturforscher die Frage offen. Wenn er Eisen im Blute, Kalk in den Knochen der Thiere findet, ohne zu wissen, wo sie herkommen, so sagt er nicht, sie seien durch den Lebensprocess erzeugt; wenn er den Ursprung mikroskopischer Thiere, wo sie herkommen, nicht darzulegen vermag, so sagt er nicht, sie seien von selbst entstanden; wenn er Personen todt und verbrannt in einem verschlossenen Zimmer findet, und nicht ermitteln kann, wie dies zugegangen, so sagt er nicht, sie seien von selbst ins Brennen gerathen. – Diese Art von Schlüssen oder Erklärungen hält er für Selbstbetrug oder für Verschleierung der Unwissenheit: weil Erklären klar machen heisst, wozu Licht oder Einsicht gehört, und weil auf der vollkommensten Unbekanntschaft mit einem Vorgang eine Erklärung dieses Vorganges nicht beruhen kann.

Die Ermittelung der Bedingungen einer Erscheinung ist das erste und nächste Erforderniss zu ihrer Erklärung. Sie müssen aufgesucht und durch Beobachtung festgestellt werden. In dem Aufsuchen und Beobachten beruht die Kunst, die geschickte Stellung der Fragen beurkundet den Geist des Naturforschers. Bedenken Sie, wie schwer es ist, einen Gegenstand aufzusuchen, den Sie gestern oder vor acht Tagen verloren haben. Sie finden ihn nicht am sichersten, wenn Sie ohne weiteres die Fussböden Ihres Hauses aufbrechen, oder Ihr Haus niederreissen und den Schutt durchsuchen, sondern am wahrscheinlichsten, wenn Sie darüber nachdenken, an welchem Orte Sie ihn zum Letztenmal gesehen und in Händen gehabt. Durch Suchen ohne Nachdenken finden Sie ihn vielleicht; durch Nachdenken und dann Suchen sichern Sie sich den Erfolg. So ist denn in der Aufsuchung der Ursache einer Erscheinung das Nachdenken der einzige zuverlässige Führer: durch die Beobachtung erkennen Sie die sinnlichen Merkzeichen des Weges.

Es giebt keine Kunst, welche so schwierig ist, wie die Kunst der Beobachtung: es gehört dazu ein gebildeter nüchterner Geist und eine wohlgeschulte Erfahrung, welche nur durch Uebung erworben wird; denn nicht der ist der Beobachter, welcher das Ding vor sich mit seinen Augen sieht, sondern der, welcher sieht, aus welchen Theilen das Ding besteht und in welchem Zusammenhang die Theile mit dem Ganzen stehen. Mancher übersieht die Hälfte aus Unachtsamkeit, ein Anderer giebt mehr als er sieht, indem er es mit dem, was er sich einbildet, verwechselt; ein Anderer sieht die Theile des Ganzen, aber er wirft Dinge zusammen, die getrennt werden müssen. In dem Görlitz’schen Process in Darmstadt sahen die Todtenweiber, welche die Leiche entkleidet und gewaschen hatten, an der Leiche weder Arme noch Kopf; ein anderer Zeuge sah einen Arm und den Kopf so gross wie eine Faust; ein dritter Zeuge (ein Arzt) sah die beiden Arme und den Kopf ganz von der Grösse eines gewöhnlichen Frauenschädels. An diesen Aussagen erkennen Sie deutlich den Grad der Bildung der Zeugen, ihre Fähigkeit zum Beobachten.

Mit dem Beobachten verhält es sich wie mit einem Stücke Glas, welches, als Spiegel, sehr eben und mit grosser Sorgfalt geschliffen sein muss, wenn es das Bild rein und unverzerrt zurückwerfen soll.

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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 18. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_018.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)