Seite:De Chemische Briefe Justus von Liebig 021.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.


chemischen Verbindungen, der Veränderung, welche Jod- und Chlorsilber unter dem Einfluss des Lichtes erleiden, der Zurückführung der veränderten Silberverbindung in metallisches Silber durch Pyrogallussäure oder ähnliche Reductionsmittel, der Löslichkeit von unlöslichen Silberverbindungen in Wasser, welches Kochsalz oder unterschwefligsaures Natron enthält, und auf der Löslichkeit der Schiessbaumwolle in Alkohol (Collodiumlösung) ist die neuere Photographie begründet. Auf der Flüchtigkeit und der Unverbrennlichkeit des Chloroforms im Blute beruht dessen Anwendung in der Chirurgie.

Die heutigen Mittel der Erkenntniss in den Naturwissenschaften, die Aufgaben der Chemie und die Erfordernisse des Chemikers sind in dem Vorhergehenden angedeutet. Die Nützlichkeit des Studiums der Chemie bedarf keiner weiteren Auseinandersetzung. Unser Hauptzweck ist nicht die Nützlichkeit, sondern die Wissenschaft; die Wissenschaft ist immer nützlich, denn jede Art von Kenntnissen erhöht unsere Kräfte, die geistigen oder die körperlichen. Wir studiren eine Naturerscheinung, ohne nach ihrem Nutzen zu fragen: nicht jede ist im Leben anwendbar und nützlich. Der Regenbogen, der in seiner überirdischen Schönheit tröstliche Empfindungen in jedes Menschen Brust erweckt, bringt dem Menschen keinen directen Nutzen, er ist eben so gut Gegenstand der Naturforschung, als wie die Aufsuchung eines Mittels, um das Seewasser trinkbar zu machen, oder um die Butter vor dem Ranzigwerden zu schützen.

Wenn Sie in vielen Entwickelungen der Chemie Lücken finden, so müssen Sie in Betracht ziehen, dass sie wie alle Naturwissenschaften in fortschreitender Vervollkommnung begriffen ist. Diese Lücken werden nach und nach ausgefüllt werden, nie wird man aber dahin gelangen, bei der Unendlichkeit des Gebietes, sie verschwinden zu machen. Was wir vor den griechischen Philosophen voraus haben, ist, dass wir unendlich besser wissen, als Sokrates es wusste, dass wir, gerade in Beziehung auf das, was wir wissen möchten, Nichts wissen. Wir ersteigen einen Berg, auf der Spitze angelangt, sieht der umfassendere Blick immer neue Berge sich erheben, die anfänglich dem Auge nicht sichtbar waren.

Suchen wir unseren Blicken die möglichst weite Aussicht zu geben, es wird uns dann leichter werden, uns in den Regionen zurecht zu finden die unter uns liegen, und uns vor Irrwegen und Hindernissen zu schützen, die unsere Schritte hemmen und unsere Kraft zersplittern. Das unter uns liegende Gebiet wird dann zu unserem Eigenthum, auf dem wir säen und zu unserem und der menschlichen Gesellschaft Nutzen Früchte ernten werden.

Die Geschichte des Menschen ist der Spiegel der Entwickelung seines Geistes, sie zeigt uns in seinen Thaten seine Fehler und Gebrechen, seine Tugenden, seine edlen und unvollkommenen Eigenschaften. Die Naturforschung lehrt uns die Geschichte der Allmacht, der Vollkommenheit, der unergründlichen Weisheit eines unendlich höheren Wesens in seinen Werken und Thaten erkennen; unbekannt mit dieser Geschichte, kann die Vervollkommnung des menschlichen Geistes nicht gedacht werden, ohne sie gelangt seine unsterbliche Seele nicht zum Bewusstsein ihrer Würde und des Ranges, den sie im Weltall einnimmt.

Empfohlene Zitierweise:
Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 21. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_021.jpg&oldid=- (Version vom 17.8.2016)