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die Vorstellung, die man damit verbindet, ist so wenig naturgemäss, dass kein Chemiker der gegenwärtigen Zeit die Metalle für 48 einfache unzerlegbare Körper, für Elemente hält. Aber noch vor einer kleinen Anzahl Jahre glaubte Berzelius fest an die Zusammengesetztheit des Stickstoffs, des Chlors, Broms und Jods, und wir lassen die einfachen Körper nicht deshalb für solche gelten, weil wir wissen, dass sie unzerlegbar sind, sondern weil ihre Zerlegbarkeit wissenschaftlich in diesem Augenblick nicht beweisbar ist. Wir halten es aber nicht für unmöglich, dass dies morgen geschehe. Im Jahre 1807 galten die Alkalien, alkalische Erden und Erden für einfache Körper, von denen wir durch H. Davy wissen, dass sie zusammengesetzt sind.

In dem letzten Viertel des vorigen Jahrhunderts glaubten viele der ausgezeichnetsten Naturforscher an die Verwandelbarkeit des Wassers in Erde, und es war diese Meinung so verbreitet, dass es der grösste Chemiker seiner Zeit, Lavoisier, für angemessen hielt, durch eine Reihe schöner Versuche die Gründe, worauf sie sich stützte, einer Untersuchung zu unterwerfen und den Irrthum darzuthun. Die Erzeugung von Kalk während der Bebrütung der Hühnereier, die von Eisen und Metalloxyden in dem thierischen und vegetabilischen Lebensprocess, fand noch in diesem Jahrhundert warme und scharfsinnige Vertheidiger.

Die Unkenntniss der Chemie und ihrer Geschichte ist der Grund der sehr lächerlichen Selbstüberschätzung, mit welcher Viele auf das Zeitalter der Alchemie zurückblicken, wie wenn es möglich oder überhaupt denkbar wäre, dass über tausend Jahre lang die kenntnissreichsten und scharfsinnigsten Männer, ein Baco von Verulam, Spinoza, Leibniz eine Ansicht für wahr hätten halten können, der aller Boden gefehlt und welche keine Wurzel gehabt hätte! Muss nicht im Gegentheil als ganz unzweifelhaft vorausgesetzt werden, dass die Idee der Metallverwandlung mit allen Beobachtungen dieser Zeit in vollkommenster Uebereinstimmung und mit keiner im Widerspruch stand?

In der ersten Stufe der Entwickelung der Wissenschaft konnten die Alchemisten über die Natur der Metalle keine andere Vorstellung haben, als die, welche sie hatten, keine andere Vorstellung war zulässig oder möglich, sie war darum naturgesetzlich nothwendig. Man sagt, dass die Vorstellung des Steins der Weisen ein Irrthum gewesen sei; aber alle unsere Ansichten sind aus Irrthümern hervorgegangen. Was wir heute für wahr halten, ist vielleicht morgen schon ein Irrthum.

Eine jede Ansicht, welche zum Arbeiten antreibt, den Scharfsinn weckt und die Beharrlichkeit erhält, ist für die Wissenschaft ein Gewinn; denn die Arbeit ist es, welche zu Entdeckungen führt. Die drei Kepler’schen Gesetze, welche als die Grundlage der heutigen Astronomie gelten, sind nicht aus richtigen Vorstellungen über die Natur der Kraft, welche die Planeten in ihren Bahnen und ihrer Bewegung erhält, hervorgegangen, sondern es sind einfache Resultate der Experimentirkunst.

Die lebhafteste Einbildungskraft, der schärfste Verstand ist nicht fähig, einen Gedanken zu ersinnen, welcher vermögend gewesen wäre, mächtiger und nachhaltiger auf den Geist und die Kräfte der Menschen einzuwirken, als wie die Idee des Steins der Weisen. Ohne diese Idee würde die Chemie in ihrer gegenwärtigen Vollendung nicht bestehen, und

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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 33. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_033.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)