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zerfällt in drei Perioden, entsprechend den drei Bedingungen, welche die Erkenntniss einer einzelnen Naturerscheinung voraussetzt.

In der ersten Periode der Chemie waren alle Kräfte der Erkenntniss der Eigenschaften der Körper zugewendet, ihre Eigenthümlichkeiten mussten entdeckt, beobachtet und festgestellt werden: dies ist die Periode der Alchemie. Die zweite Periode umfasst die Ermittelung der gegenseitigen Beziehungen oder des Zusammenhangs dieser Eigenschaften: dies ist die Periode der phlogistischen Chemie; in der dritten Periode, – dies ist die, in welcher wir uns befinden, – bestimmen wir durch Mass und Gewicht das Verhältniss, in welchem die Eigenschaften der Körper abhängig von einander sind. Die inductiven Naturwissenschaften beginnen mit dem Stoff, dann kommen die richtigen Ideen, zuletzt kommt die Mathematik mit ihren Zahlen und macht das Werk fertig.

Die politische Geschichte der Völker, ähnlich wie die der Wissenschaften, zeigt uns ebenfalls drei Epochen. In der ersten entwickeln sich die Eigenschaften der Menschen in allen ihren Gegensätzen. Die Schwäche unterordnet sich der Stärke; Weisheit, Erfindungsgabe werden als göttliche Eigenschaften verehrt, in Geboten werden die allgemeinsten Bedingungen des gesellschaftlichen Zusammenlebens niedergelegt. Alle diese Gebote beginnen mit: „Du sollst“; die Menschen haben Pflichten, keine Rechte. In der darauf folgenden Epoche entwickeln sich alle Beziehungen der Abhängigkeit dieser Eigenschaften. Der Streit der einander entgegengesetzten Eigenschaften führt zu Gesetzen: aus dem Bewusstsein des Rechts entwickelt sich das Bewusstwerden von Rechten. Durch die Zusammenfügung gleichartiger Rechte entstehen die Gewalten. Der Kampf der einander entgegengesetzten Gewalten führt zu Revolutionen; eine Revolution heisst der Vorgang der Störung oder der Herstellung eines Gleichgewichtszustandes. In der letzten Epoche wird das Verhältniss der Abhängigkeit aller Eigenschaften, Rechte oder Gewalten festgestellt, welche dem Einzelnen die freieste Entwickelung aller seiner Fähigkeiten und Eigenschaften ohne Nachtheil für den Andern sichert. Die Revolutionen sind am Ende.



Vierter Brief.


Unzählige Keime des geistigen Lebens erfüllen den Weltraum, aber nur in einzelnen, seltenen Geistern finden sie den Boden zu ihrer Entwickelung; in ihnen wird die Idee, von der Niemand weiss, von wo sie stammt, in der schaffenden That lebendig; durch sie erhält das verborgene Naturgesetz die Allen erkenntliche, wirksame, thätige Form.

Nicht an die Thaten mächtiger Fürsten oder berühmter Feldherren, sondern an die unsterblichen Namen Columbus, Copernicus, Kepler, Galilei, Newton knüpft die Geschichte den Fortschritt in den Naturwissenschaften und den Zustand der Geistesbildung in der gegenwärtigen Zeit.

Empfohlene Zitierweise:
Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 39. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_039.jpg&oldid=- (Version vom 17.8.2016)