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Trefflich bezeichnet Luther in seinen Tischreden die mit der Reformation aufgehende Lust an der Natur und Naturforschung*)[1]: „Wir sind jetzt in der Morgenröthe des künftigen Lebens, denn wir fahen wiederum an zu erlangen die Erkenntniss der Creaturen, die wir verloren haben durch Adams Fall; jetzt sehen wir die Creatur gar recht an. Erasmus aber fraget nichts darnach, wie die Frucht im Mutterleibe formiret, zugerichtet und gemacht wird. Wir aber beginnen von Gottes Gnaden seine Wunder und Werke auch in den Blümlein zu erkennen, wenn wir bedenken, wie allmächtig und gütig Gott sei. In seinen Creaturen erkennen wir die Macht seines Wortes, wie gewaltig das sei.“

Ungewöhnliche Kräfte brachte die Natur hervor, um in dem beginnenden Kampfe des zum Bewusstsein erwachten Geistes der europäischen Nationen, gegen jegliche Tyrannei, gegen einen übermächtigen Aberglauben, welcher unausrottbar schien, der Vernunft den Sieg zu sichern.

Eine Anzahl der grössten Männer folgten einander in einer ununterbrochenen Reihe, bis das grosse Werk gethan und sein Erfolg gesichert war. Einhundert Jahre nach Copernicus wurde Kepler, in dem Jahre, in welchem Galilei starb, wurde Newton geboren.

Das Mittelalter hatte in der theologischen Philosophie eine Universal-Wissenschaft aufgestellt und sie mit der ganzen Autorität eines religiösen Glaubens befestigt. Ein Irrthum in der Wissenschaft war ein Laster, die Abweichung von ihren Lehren war Ketzerei, sie war gleichbedeutend mit der Verwerfung der Offenbarungen des Himmels; Folter und Scheiterhaufen erwarteten den Freier-, den Andersdenkenden. Einhundert Jahre nach Luther sollte Galileo Galilei in den Kerkern der Inquisition die Bewegung der Erde widerrufen, und die Worte, die er murmelte: „E pur si muove,“ als er in blossem Hemde von den Knieen sich erhob, schliessen noch jetzt die überwältigende Macht feststehender Thatsachen in sich ein. Niemand kann noch jetzt seinen berühmten Brief an Madama Christiana Granduchessa madre ohne Bewegung lesen, der seine Gegner nicht überzeugte. (Siehe Anhang.)

Alle diese Hindernisse konnten aber auf die Dauer den Aufschwung und Fortschritt der Wissenschaften mit eben so wenig Erfolg hemmen, wie dies später in Beziehung auf religiöse Meinungen ein dreissigjähriger Krieg vermochte; denn der Irrthum ist vergänglich, nur die Wahrheit ist ewig; der Irrthum ist ja nichts anderes als der Schatten, den die Wahrheit wirft, wenn ihr Licht durch den ungeläuterten dunkeln Geist des Menschen auf seinem Wege aufgehalten wird.

Auch die Chemie ging in dieser merkwürdigen Zeit einer Umwälzung entgegen; indem sie mit der Heilkunst zusammenschmolz, gewann sie ein neues Ziel, und nahm eine ganz veränderte Richtung an.

Die Alchemie hatte die Waffen geschmiedet, um der Chemie in der Medicin ein neues Gebiet zu erkämpfen und der tausendjährigen Herrschaft des Galen’schen Systems ein Ende zu machen.

Die grosse und heilsame Umwälzung, welche die Medicin erfuhr, die Befreiung von den Fesseln des Autoritätsglaubens ging aus der

  1. *) Carriere Seite 116.
Empfohlene Zitierweise:
Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 43. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_043.jpg&oldid=- (Version vom 17.8.2016)