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Erkenntniss der Unzulänglichkeit und Unrichtigkeit aller bis dahin für wahr gehaltenen Ansichten über das Wesen der Körperwelt hervor.

Das neue Licht war ein Erwerb der Alchemisten, durch sie gewann die Lehre der griechischen Philosophen über die Ursachen der Naturerscheinungen eine neue Gestalt.

In allen Zeiten hatte der denkende Mensch versucht sich Rechenschaft zu geben über den Ursprung der Dinge, und sich Aufschluss zu verschaffen über den Grund ihrer Eigenthümlichkeiten. Am nächsten lag unstreitig das Verfahren der Mathematiker zu befolgen, welche ohne äussere Mittel die Gesetze und Eigenschaften mathematischer Figuren erforschen. Dies war in der That der Weg, den die griechischen Philosophen wählten, um zur Erkenntniss der Naturerscheinungen zu gelangen. Sie betrachteten die verschiedenen und mannichfaltigen Eigenschaften der Körper als Dinge für sich, und suchten mit Hülfe des Verstandes die gemachten Wahrnehmungen zu verbinden, und diejenigen Eigenschaften zu ermitteln, welche allen gemein sind.

Die Entstehung, die Eigenschaften aller Dinge setzt, so lehrt Aristoteles, drei Grundursachen voraus. Die erste ist die eigenschaftslose Materie (ὕλη), die zweite die Ursache oder Ursachen, welche dem Stoff seine Eigenthümlichkeiten geben, und die sich in dem Begriff der körperlichen Gestalt (εἶδος) zusammenfassen lassen. Die dritte ist eine Ursache oder Ursachen (Kräfte in dem Sinne und Begriff, wie sie die Worte Arzneikraft, Ernährungskraft enthalten), welche sie verändern, indem sie diese Eigenschaften nehmen (στέρησις Beraubung). Was den Veränderungen in den Eigenschaften der Materie vorhergeht, ist die Ursache (το ποιοῦν das Wirkende), was diesem folgt die Wirkung (τέλος der Zweck).

Diese Vorstellung, dass die Eigenschaften der körperlichen Dinge gleichsam wie die Farben seien, womit der Maler der farblosen Leinwand die Eigenschaften eines Gemäldes ertheilt, oder den Kleidern, die sich an- und ausziehen lassen, und welche die Gestalt des Menschen bestimmen, ist die Grundlage der Alchemie und des ersten wissenschaftlichen Systems der Heilkunde gewesen.

Dem schärfsten Verstande dürfte es schwer sein, ohne andere Mittel als die einfache Wahrnehmung durch die Sinne zu gebrauchen, mehr als vier Eigenschaften aufzufinden, welche allem tastbaren Körperlichen angehören.

Dem Auge und Geschmacksinn bieten die Körper unendlich viele Verschiedenheiten dar, es giebt gefärbte und ungefärbte, schmeckende und riechende, geschmack- und geruchlose.

Aber alle Körper sind entweder feucht oder trocken, warm oder kalt. Alles Tastbare besitzt zwei von diesen Eigenschaften. Der Körper ist fest oder flüssig, er besitzt eine gewisse Temperatur.

Diese Eigenschaften, sagt Aristoteles, sind offenbar einander entgegengesetzt; denn die Kälte kann durch Hitze, die Trockenkeit durch Feuchtigkeit aufgehoben werden, durch Zusammenwirken zweier nicht entgegengesetzten Eigenschaften, z. B. von Trockenheit und Kälte, sieht man feste Körper entstehen, durch Feuchtigkeit oder Hitze werden sie flüssig oder luftförmig. Die Beziehungen dieser Eigenschaften zu einander sind hiernach klar. Nicht blos der Zustand und die kalte oder

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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 44. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_044.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)