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Wie konnte man der Theorie der Lebenserscheinungen und Heilwirkungen nach Galen ferner noch eine Geltung zuschreiben, nachdem erwiesen worden war, dass alle seine Ansichten hinsichtlich der Metalle und ihrer Präparate vollkommen falsch seien, als man entdeckt hatte, dass die Eigenthümlichkeiten des organischen Körpers und die Wirkungen der Arzneien auf Grundursachen beruhten, welche Galen nicht in seine Erklärungen aufgenommen hatte, weil er sie nicht kannte. Nicht nur die Grundursachen, welche die physikalischen Eigenschaften, sondern auch die chemischen Elemente, welche die chemischen Eigenschaften bedingen, mussten von jetzt an bei der Erklärung der organischen Processe mit im Rath sitzen und in Rechnung genommen werden. Nicht blos von dem Verhältniss von Feuchtigkeit und Trockenheit, Hitze oder Kälte allein, sondern noch überdies von dem Verhältniss von Salz, Mercur, Schwefel, Laugensalz und Säure hingen die Lebenserscheinungen und die Wirkungen der Arzneien ab. Durch solche neue und geänderte Begriffe nahm die Heilkunst eine andere Form an.

Wenn die regelrechte chemische Beschaffenheit der Säfte den Gesundheitszustand bedingte, so war die regelwidrige chemische die nächste Ursache der Krankheit; durch die vorherrschenden chemischen Qualitäten der Arzneien konnte die Krankheit gehoben, die Gesundheit wieder hergestellt werden.

Auf die chemische Beschaffenheit der Galle, des Speichels, des Schweisses, des Harns musste jetzt bei der Wahl der Mittel vorzugsweise Rücksicht genommen werden: dies war ein unermesslicher Fortschritt. Man machte die wichtige Entdeckung, dass die Beschaffenheit des Harns in einem bestimmten Abhängigkeitsverhältniss zu den Krankheiten stand, und wie in dieser Periode der Wissenschaft alle Wirkungen für die Ursachen selbst genommen wurden, so galten die Absätze im Harn, der Tartarus, als Ursache vieler Krankheiten.

In Paracelsus’ Geiste verkörperten sich die Ideen dieser Zeit, und als er zu Basel einige Jahre darauf, nachdem Luther die päpstliche Bulle verbrannt hatte, diesem Beispiele folgend, die Werke Galen’s und Avicenna’s den Flammen übergab, da hatte deren Reich ein Ende.

Man hatte die Natur verlassen, so sagt Paracelsus, und sich leeren Träumereien hingegeben, darum verwies er auf das offene Buch der Natur, „das Gottes Finger geschrieben“; die Sonne, kein trübseliges Stubenlämpchen, solle das rechte Licht verleihen; die Augen, die an der Erfahrenheit Lust haben, die seien die rechten Professoren. Die Natur sei ohne Falsch, gerecht und ganz; aus dem Bücherwesen und aus menschlichem Phantasiewerk sei Verwirrung und Spiegelfechterei erwachsen. „Mir nach,“ so beginnt er sein Paragranum, „ich nicht euch, Avicenna, Rhases, Galen, Mesur! Mir nach und ich nicht euch, ihr von Paris, ihr von Montpellier, ihr von Schwaben, ihr von Meissen, ihr von Köln, ihr von Wien, und was an der Donau und an dem Rheinstrom liegt, ihr Inseln im Meer, du Italien, du Dalmatien, du Athen, du Grieche, du Araber, du Israelit! Mir nach und ich nicht euch, mein ist die Monarchie.“

In Paracelsus spiegeln sich alle Ideen, alle Fehler und Irrthümer seiner Zeit. In ihm kämpft eine gigantische Kraft gegen äussere

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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 52. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_052.jpg&oldid=- (Version vom 17.8.2016)