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isomerische Körper erhalten. Die grosse Classe von flüchtigen Oelen, zu denen Terpentinöl, Citronöl, Copaivabalsamöl, Rosmarinöl, Wachholderbeeröl und andere gehören, so verschieden durch ihren Geruch, ihre medicinischen Wirkungen, ihren Siedepunkt etc., enthalten einerlei Verhältniss Kohlenstoff und Wasserstoff, keines mehr von dem einen oder anderen Bestandtheile als das andere.

In welcher wunderbaren Einfachheit erscheint uns von diesem Gesichtspunkt aus die organische Natur; mit zwei gleichen Gewichten von zwei Bestandtheilen bringt sie eine ausserordentliche Mannichfaltigkeit von Verbindungen der merkwürdigsten Art hervor. Man hat Körper entdeckt, die, wie der krystallisirende Bestandtheil des Rosenöls, bei gewöhnlicher Temperatur fest und flüchtig, eine gleiche Zusammensetzung haben mit dem Gas, welches in unseren Lichtflammen brennt, und noch obendrein mit einem Dutzend von anderen Körpern, alle höchst verschieden in ihren Eigenschaften.

Diese Resultate, die in ihren weiteren Beziehungen so bedeutungsvoll sind, wurden nicht ohne genügende Beweise als Wahrheiten angenommen; einzelne Beobachtungen dieser Art waren längst bekannt, sie bewegten sich aber heimathlos in dem Gebiete der Wissenschaften herum, bis man zuletzt auf Körper kam, an denen sich schärfer noch, als durch die Analyse, Beweise für die absolute Gleichheit der Zusammensetzung bei höchst ungleichen Eigenschaften führen liessen, die man rückwärts und vorwärts willkürlich in einander überführen und verwandeln konnte. In der Cyanursäure, dem Cyansäurehydrat und Cyamelid hat man drei solcher Körper; die erstere ist im Wasser löslich, krystallisirbar, fähig mit Metalloxyden Salze zu bilden; das Cyansäurehydrat ist eine flüchtige, im höchsten Grad ätzende Flüssigkeit, die mit Wasser ohne Zersetzung nicht zusammengebracht werden kann; das Cyamelid ist eine weisse, im Wasser völlig unlösliche, porcellanartige Masse. In einem hermetisch verschlossenen Glasgefäss verwandelt sich die Cyanursäure durch den Einfluss einer höheren Temperatur in Cyansäurehydrat, und dieses geht von selbst bei gewöhnlicher Temperatur in Cyamelid über, ohne dass ein Bestandtheil austritt, oder ein Körper von aussen aufgenommen wird.

Cyamelid lässt sich rückwärts in Cyanursäure oder in Cyansäurehydrat nach Belieben verwandeln. In einem ähnlichen Verhältniss stehen Aldehyd, Metaldehyd und Elaldehyd, Harnstoff und cyansaures Ammoniak zu einander, in der Art also, dass ein Körper in den andern übergeführt werden kann, ohne dass einer seiner Bestandtheile aus- oder ein fremder eintritt.

Nur die Ansicht, dass die Materie nicht unendlich theilbar sei, dass sie aus nicht weiter spaltbaren Atomen bestehe, giebt genügende Rechenschaft über diese Erscheinungen. Bei der chemischen Verbindung durchdringen sich diese Atome nicht, sie ordnen sich in einer gewissen Weise, und von dieser Ordnung hängen ihre Eigenschaften ab. Aendern sie durch Störungen von aussen ihren Platz, so verbinden sie sich in einer neuen Weise, es entsteht ein anderer Körper mit durchaus verschiedenen Eigenschaften. Ein Atom von dem einen kann mit einem Atom eines zweiten Körpers, zwei Atome können mit zwei, vier mit vier, acht mit acht Atomen eines anderen zu einem einzigen zusammengesetzten Atom

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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 112. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_112.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)