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Wir kennen zweifache Zustände beim Phosphor, der als ein einfacher Körper angesehen wird, und beim Cyan, welches, obwohl zusammengesetzt, alle Eigenschaften eines einfachen Körpers besitzt.

Erhält man Phosphor eine Zeitlang beim Luftabschluss seinem Siedepunkt nahe, so tritt eine wahre Gerinnung und damit eine Umwandlung seiner hervorstechendsten Eigenschaften ein. Im gewöhnlichen Zustande farblos, leicht schmelzbar[1], leicht verbrennlich, im Dunkeln leuchtend und von selbst zu einer zerfliesslichen Säure verbrennend, wird er bei 240 bis 250 Grad fest, braunroth, er verliert seine Leichtverbrennlichkeit und ist unveränderlich an feuchter Luft; der gewöhnliche Phosphor löst sich beinahe in jedem Verhältniss in Schwefelkohlenstoff auf, der veränderte wird davon nicht aufgelöst; der gewöhnliche Phosphor ist sehr giftig, der veränderte hat in denselben Dosen keine Wirkung auf den thierischen Organismus, wie Versuche an Hunden dargethan haben. Man bemerkt leicht, dass, wenn man unter Phosphor sich einen Inbegriff von gewissen Eigenschaften denkt, der veränderte Phosphor diesen Namen nicht mehr tragen dürfte, wäre es nicht möglich, diesem rückwärts alle verlorenen Eigenschaften wieder zu geben und die neu gewonnenen wieder verschwinden zu machen; bei einer schwachen Glühhitze verwandelt sich der veränderte Phosphor wieder in gewöhnlichen Phosphor.

Eine ähnliche Umwandlung kennen wir beim Cyan; es ist bei gewöhnlicher Temperatur ein farbloses, leicht entzündliches, mit rother Flamme brennendes Gas, welches bei starker Kälte tropfbar-flüssig wird; bei der Darstellung des Cyangases aus Quecksilbercyanid, aus welchem man es durch Einwirkung einer hohen Temperatur erhält, verwandelt sich ein Theil des freiwerdenden Cyans in einen dunkelbraunen, festen, sehr schwer verbrennlichen Körper, der in starker Glühhitze sich wieder in gewöhnliches Cyangas verwandelt.

In ähnlicher Weise wird flüssiges Chloral bei gewöhnlicher Temperatur fest, weiss und porcellanartig und kann in höherer Temperatur wieder in gewöhnliches Chloral zurückverwandelt werden. Das farblose, höchst flüchtige, flüssige, mit Aether und Alkohol mischbare Styrol wird durch den Einfluss der Wärme fest, durchsichtig wie Glas, unlöslich in Alkohol und sehr schwer löslich in Aether. Einem höheren Hitzgrade ausgesetzt, verwandelt es sich wieder in flüchtiges, flüssiges Styrol.

In seinem Verhalten gegen die Wärme ist der Phosphor den eben erwähnten vollkommen ähnlich. Was ist der Grund dieser Umwandlungen in den Eigenschaften des Körpers? Welchen räthselhaften Antheil nimmt daran die Wärme? Wir haben uns die Verschiedenheiten in den physikalischen Eigenschaften einfacher und zusammengesetzer Körper durch eine verschiedene Lagerung ihrer Elementartheile oder Bestandtheile, die Ungleichheit ihrer physikalischen und chemischen Eigenschaften bei gleich zusammengesetzten Körpern durch eine ungleiche Anordnung der Elementartheile ihrer Bestandtheile erklärt, und diese Ansicht mag bei vielen richtig sein; wie ist es aber beim Phosphor, der in zwei verschiedenen Zuständen ganz verschiedene chemische, physikalische und physiologische Eigenschaften besitzt und der als ein einfacher Körper angesehen werden muss?

  1. WS: korrigiert, im Original: sehmelzbar
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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 114. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_114.jpg&oldid=- (Version vom 17.8.2016)